Donnerstag, 15. Oktober 2009

Schildkröte im Brunnen


Eine mongolische Fabel

Eine Schildkröte lebte in eitlem Brunnen. Eine andere Schildkröte, deren Heimath der Ocean war, fiel aus ihren Ausflügen ins Innere des Landes zufällig in diesen Brunnen. Die Schildkröte fragte nun ihren neuen Kameraden, woher er käme.

»Aus dem Meere.«

Da sie vom Meere sprechen hörte, schwamm die Brunnenschildkröte ein wenig im Kreise herum und fragte: »Ist das Wasser des Oceans so groß wie dieses?«


»Größer!« entgegnete die Seeschildkröte.


Die Brunnenschildkröte schwamm alsdann zwei Drittel des ganzen Brunnenumfanges ab und fragte, ob der Ocean so groß sei.


»Viel größer!« sagte die Seeschildkröte.


»Nun denn,« sagte die Brunnenschildkröte, »ist der Ocean so groß, wie der ganze Brunnen?


»Größer!« sagte die Seeschildkröte.


»Wenn das wahr ist«, sagte die andere »Wie groß ist denn dann der Ocean?«


Die Seeschildkröte erwiderte: »Da du noch nie ein anderes Gewässer als das deines Brunnens gesehen hast, so ist dein Begriffsvermögen sehr gering. Was den Ocean anbetrifft, so könntest du ihn niemals, selbst wenn du viele Jahre darin zubrächtest, auch nur zur Hälfte ergründen, noch auch seine Grenzen erreichen, und es ist durchaus unmöglich, ihn mit diesem deinen Brunnen zu vergleichen.«


Die Schildkröte entgegnete: »Es ist unmöglich, daß es ein größeres Gewässer als diesen Brunnen giebt, du willst nur deinen Geburtsort mit eitlen Worten herausstreichen.«


Moral: Leute voll geringer Bildung, die sich von dem geistigen Horizont hochbefähigter Menschen keinen Begriff machen können und sich ihres Willens und ihrer Talente rühmen, gleichen der Schildkröte im Brunnen.


Dr. U.
aus: Die Gartenlaube, 1891

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