Meine erste Fabel vom Frosch und der Larve der Cicade (welche, beiläufig gesagt, einem Mistkäfer bis zu einem gewissen Grade ähnlich sieht und daher auf Chinesisch mit demselben Wort wie letzterer bezeichnet wird) lautet folgendermassen:
Ein Frosch hatte mit der Larve einer Cicade Freundschaft geschlossen. Als aber der Sommer kam und es heiss wurde, warf die Larve ihre hässliche Hülle ab, verwandelte sich in eine Cicade und kroch hinauf in den Wipfel eines Baumes, woselbst sie unter munterem Flügelschlage ihren schrillen Gesang ertönen liess. Da fiel es plötzlich dem Frosch ein, er wolle doch seine Freundin einmal besuchen. Als er aber zur Wohnung der Larve gelangte, fand er sie nicht zu Hause. Er suchte sie wohl einen halben Tag lang, konnte sie aber nirgends finden, bis er sich endlich an der Wurzel eines Baumes niedersetzte, um sich an der frischen Kühle zu laben. Da plötzlich, als er seine Blicke in die Höhe richtete, sah er die Cicade, wie sie auf einem Baumzweige sass und ihren melodischen Gesang erschallen liess. Da rief er ihr zu: »Werte Freundin! Komm doch herab zu mir dich auszuruhen und mit mir zu plaudern!« Die Cicade aber kroch immer höher und kümmerte sich nicht um ihn. Da rief der Frosch zornig: »Ha! jetzt, wo du ein Gewand aus weisser Gaze angelegt hast, bist du stolz geworden und blickst auf deinen alten Freund hochmütig herab.«
Hier schliesst das Original. Die Hinzufügung eines Fabula docet ist im Chinesischen durchaus ungebräuchlich, auch bei den Kunstfabeln. Im Übrigen trägt die kleine Geschichte entschiedene Localfarbe: die Cicade ist eins der charakteristischesten Insekten des nördlichen China.
aus: Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke
In: Zeitschrift für Volkskunde
1. Jahrgang (1891), S. 325-326
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