Dienstag, 12. Mai 2009

Das Verschwinden des Einhorn


Quelle: Wikipedia / Unicorn in captivity

Es ranken sich viele Mythen und Sagen um das Verschwinden des Einhorns. Jäger haben sich die Sympathie des Fabelwesens zu unschuldigen jungen Frauen zu Nutze gemacht, ihm aufgelauert und es gefangen oder erlegt - sagen die Einen. Es sei einfach verblasst, weil die Menschen nicht mehr an Einhörner geglaubt haben - sagen die Anderen. Einhörner habe es nie gegeben, das sei eine Ausgeburt der menschlichen Fantasie gewesen von Anfang an - sagen die Zweifler und die Einhörner seien verkümmert und verhungert, weil durch die Vereinnahmung der Welt durch den Menschen kein Platz mehr für sie blieb - sagen die Pessimisten.

Tatsächlich könnte es sich aber so verhalten haben: Gegeben hat es immer nur ein Einhorn. Es ist durch die Jahrmillionen gewandert, die auch der Mensch gegangen ist von dem Zeitpunkt an vor zwei Millionen Jahren, als der erste Australopithecus sich erhob und aufrecht durch die Savanne ging. Es begleitete den Homo habilis, den Homo erectus und letztendlich den Homo sapiens so lange, bis dieser sich nicht nur von den Zwängen seiner Umgebung freigemacht sondern sogar begonnen hatte, diese unter seinen Zwang zu nehmen. Als die Pyramiden in den Himmel wuchsen, in Babylon die hängenden Gärten entstanden, der Koloss von Rhodos sein Licht weit über das mittlere Meer strahlte, die Menschen begannen, Gänge tief in die Berge zu schlagen, um Erz und Edelstein hervorzuholen, da zog es sich in die dunklen Wälder zurück, die noch unberührt von Menschenhand waren. Später kam es dann und wann noch einmal vor um seinen Kopf und das Horn in den Schoß einer vertrauensvollen Jungfrau zu legen, aber als der zunächst einstimmige Choral in den Stimmen immer mehr auseinanderstrebte und die Kathedralen immer höher in den Himmel zeigten, da verschwand es einfach von dieser Welt um auf einer anderen aufzutauchen, auf der gerade ein Wesen begann sich auf zwei Beinen aufzurichten und mit verwunderten Augen seine Umgebung aus einer neuen Perspektive zu betrachten.

Die Menschen hatten es nicht beachtet, als es da war. Seit es fort ist, sehnen sie sich nach ihm, malen von ihm Bilder, dichten Sonette und Geschichten, suchen das vermeintliche Horn, von dem man Wunderdinge glaubt – und haben dabei doch mehr vergessen, als sie je gewusst haben.

Horst-Dieter Radke

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

was fort ist, nicht mehr sichtbar, erweckt Wünsche nach dem besonderen, nach Klarheit ... Solange Macht das Zuchtinstrument ist, werden Träume und Hoffnungen zerschlagen und das Einhorn zeigt sich - vielleicht - einigen in besonderen Minuten.