Donnerstag, 10. Januar 2013

Bidpai's Fabelbuch (3)

Indisch

Daß das Buch, d.h. der Grundstock desselben, indischen und nicht persischen Ursprungs sey, wie Herr von Diez zu beweisen sich bemühte, ist jetzt nach dem zu Tage geförderten indischen Text des Hitopadesa (freundliche Unterweisung) und nach den gründlichen Untersuchungen englischer und französischer Gelehrten, namentlich nach denen meines verehrtesten Lehrers, des Barons S. de Sacy außer allen Zweifel gesetzt. Außer vielen historischen Zeugnissen spricht für Indien als das Stammland dieser Fabelsammlung das indische Colorit, das sich an vielen Stellen unserer arabischen Uebersetzung nicht verkennen läßt, wiewohl der arabische Uebersetzer oder Bearbeiter im Ganzen das Buch zu nationalisieren suchte. Die allerdings nicht kleine Verschiedenheit in den einzelnen Fabeln und Erzählungen und in ihrer Anreihung an einander, bei Hitopadesa und unserm arabischen Text, darf nicht befremden. Der arabische Uebersetzer hat eben den ihm vorliegenden Stoff frei behandelt. Der Hitopadesa, dem selbst wieder ein älteres Werk, das Panchatantra (fünf Sammlungen), zu Grund liegt, ist zuerst von Wilkins in einer englischen Uebesetzung Bath, 1787 bekannt gemacht worden. …


Ueber die Entstehung des Buchs in Indien verbreitete sich die von einem gewissen Behnud, einem Perser, zu dem Buch gemachte Einleitung. Was an der Erzählung dieses Behnud Historie, was bloße Sage oder Erfindung sey, ist nicht auszumitteln, indeß ist wohl nicht zu zweifeln, daß dieselbe eine historische Grundlage habe. Das Wesentliche dieser Einleitung ist folgendes:


Nachdem der indische König Fur (Porus) durch Alexander den Großen überwunden und getödtet war, kam ein gewisser Dabschelim, königlichen Stammes, auf den Thron von Indien, denn der von Alexander an Porus Stelle eingesetzte Statthalter konnte sich nicht halten. Dieser Dabschelim wurde mit der Zeit ein vollkommener Tyrann. Zu seiner Zeit lebte ein wegen seiner Weisheit in allgemeinem Ansehen stehender Brahmane, namens Bidpai. Der Weise, von dem rücksichtslosen Eifer getrieben, den König von seinem ungerechten Thun und Treiben abzubringen, stellt sich vor demselben und hält ihm in freimüthiger Sprache alle seine Gebrechen vor und ermahnt ihn zur Aenderung seiner Handlungsweise. Der ob solcher Freimüthigkeit ergrimmte König gab alsbald Befehl, den Brahmanen an’s Kreuz zu schlagen, änderte jedoch gleich denselben dahin ab, daß er den Bidpai bloß in’s Gefängniß werfen ließ. Die zahlreichen Schüler des Weisen entflohen in entfernte Gegenden. Bidpai blieb lange Zeit im Gefängniß. In einer schlaflosen Nacht verfiel der König in Nachdenken über die Gestirne des Himmels und ihre Bewegungen, sowie über das System des Universums. Da gedachte er wieder des weisen Brahmanen, hoffte von demselben über das, was ihm dunkel war, Aufschluß erhalten zu können und bereuete seine an demselben ausgeübte Grausamkeit. So ward Bidpai vor den König gebracht und auf dessen Befehl wiederholte er, indem er die Reinheit seiner Absichten betheuerte, die früher demselben gegebenen Zurechtweisungen und Ermahnungen. Dabschelim hörte ihn aufmerksam und ruhig an, ließ ihm die Fesseln abnehmen und erklärte ihm sogar, ihm die Regierung seines Reichs anvertrauen zu wollen. Nur ungern gieng der Brahmane auf diese Antrag ein. Seine Verwaltung hatte, wie sich erwarten ließ, den günstigsten Einfluß auf das Reich. Alle Könige Indiens unterwarfen sich gern der Oberherrschaft des nun durch seine vortreffliche Eigenschaften ausgezeichneten Dabschelim. Bidpai erklärte hierauf seinen Schülern, die sich nach seiner ehrenvollen Erhebung zu dem höchsten Staatsamte wieder um ihn versammelt hatten, daß der König ihm den Auftrag gegeben: ein Buch zu verfassen, welches die wichtigsten Regeln der Weisheit in sich enthielte. Anfangs wollte Bidpai die Arbeit mit seinen Schülern theilen, aber bald sah er ein, daß er besser derselben sich allein unterzöge, und so gieng er an’s Werk, indem er nur einen seiner Schüler als seinen Schreiber annahm. Nachdem er sich mit Papier und mit den für ihn und seinen Schreiber nöthigen Nahrungsmitteln auf ein ganzes Jahr, welche Frist ihm vom König zur Abfassung seines Werks vergönnt war versehen hatte, schloß er sich mit seinem Schreiber in ein Zimmer ein, zu dem Niemand Eintritt erhielt. Nach Verfluß der bestimmten Frist ward er mit dem Buche fertig. Der König berief alle Großen und Weisen seines Reichs und vor solcher Versammlung las Bidpai sein Buch vor. Der König war entzückt darüber und zeigte sich bereit, dem Verfasser jegliche Belohnung, die er dafür verlangte, zu geben. Bidpai verlangte aber keinen andern Lohn, als daß sein Buch sorgsam aufbewahrt werden möchte, auf daß es nicht über Indien hinaus und in die Hände der Perser komme.



Calila und Dimna
oder
die Fabeln Bidpai’s.
Aus dem Arabischen
von Philipp Wolff
Stuttgart, 1837

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