Sonntag, 18. November 2012

Doppelte Moral

Ein Wolf war in eine tiefe Grube gefallen. Er glaubte nichts anderes, als daß elendiglich umkommen müsse. Da kam in der höchsten Not eine Herde Schafe vorbei.

Der Wolf bat in den kläglichsten Tönen um Hilfe, und da er die Sittenstrenge und Frömmigkeit der Schafe kannte, hielt er ihnen vor, wie ungerecht es wäre, ein Leben verderben zu lassen, das man retten könne. Endlich erklärte er, wenn sie ihm aus der Grube helfen würden, dann verspreche er ihnen bei allem, was einem Wolfe heilig sei, nie mehr in seinem Leben ein Schaf zu fressen.

Durch dieses Versprechen ließen sich die Schafe betören und halfen dem Wolf aus der Grube.

Kaum war Meister Isegrim aber aus seinem Gefängnis befreit, da stürzte er auch schon trotz Versprechen und Schwur unter die Herde und griff sich ein junges Schaf heraus. Die übrigen suchten so rasch sie konnten dem wortbrüchigen Räuber zu entfliehen.

Das arme Opfer der Leichtgläubigkeit zitterte am ganzen Körper vor Angst und bat um sein Leben. Doch der Wolf blieb ungerührt.


In seiner Verzweiflung nahm das junge Schaf Zuflucht zu den Sittenlehren, in denen es von einem alten Hammel unterrichtet worden war.

„Weißt du nicht“, fragte es mit bebender Stimme, „daß es ein schwerer Frevel ist, ein Leben zu vernichten?“

„Nach dem Sittengesetz der Schafe“, war die spöttische Antwort.

„In der Grube hast du dich doch selbst auf dies Gesetz berufen und uns Freundschaft geschworen.“

„Da war ich auch in der Not und brauchte eure Hilfe.“

„Aber und kannst doch unmöglich zur Zeit der Not eine andere Moral haben als dann, wenn es dir gut geht, und nicht einen Vertrag jetzt beschwören, um ihn in der nächsten Minute zu brechen.“

Der Schafdieb grinste zynisch: „Von einem Wolf darfst du nicht verlangen, daß er nach den Grundsätzen der Schafe leben soll.“

„Es muß aber doch ein Sittengesetzt geben, von dem auch die Handlungen eines Wolfes geleitet werden“, ächzte das verzweifelte Schaf.

„Was ich tun darf und unterlassen muß wird nur von meiner Stärke und Bewegungsfreit bestimmt.“

„Das ist ja eine entsetzliche Moral!“

„Entsetzlich für Schafe“, sagte der blutgierige Räuber, „aber nicht für Wölfe!“

Und damit zerriß er das moralische Schaf und fraß es auf.



Felix Fechenbach

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