Sonntag, 5. Dezember 2010

Auf Stippvisite


Foto: Mirjam Radke

Die Sonne strahlt. Der  Ostwind trägt die Rufe des Muezzin  von der Böckmannstraße bis zur Danziger. In den Auslagen der türkischen Gemüsehändler leuchten die satten Farben der Tomaten, Salatgurken, Auberginen, Apfelsinen und Granatäpfel.  Ein Mann in einem wallenden Gewand schleppt zwei tief gefrorene Fleischspieße auf den Schultern in das Restaurant Batman. Die Kehrbesenmaschine der Stadtreinigung fährt Schlangenlinien um die Zweitereiheparker am Straßenrand. Hupkonzert.  Der Autoverkehr staut sich auf dem Steindamm bis zum Phillips Hochhaus.
„Ich glaub wir sind falsch!“
Thadeus steckt seine Nase aus dem Regenwassersiel und schaut sich um. Seine Barthaare zittern. Er quetscht sich durch den Spalt zwischen zwei Stahlverstrebungen und schüttelt den grauen Pelz. Dicht hinter ihm folgt Louisa.
„Hilfe, ich steck fest!“
Thadeus dreht sich zu ihr um und schüttelt den Kopf.
„Meine Güte, atme aus und dann wird’s schon gehen.“
Louisa atmet aus und aus und aus. Endlich!
„Komisch, hört sich an wie in Istanbul, bloß saukalt ist es.“ 
Louisa schaudert. Sie hebt den Kopf und schnüffelt: 
„Und - hier gibt’s irgendwo Islim Kebabi.“
„Hä?“

„Auberginen mit Lammfleisch.“
„Du denkst auch immer nur an das Eine!“
Louisa kichert und setzt vorsichtig eine Pfote vor die andere im Rinnstein der vierspurigen Straße. Ein Hagelkorn. Noch eins. Ganz viele. Thadeus und Louisa ziehen die Köpfe ein.
„Das gibt’s doch gar nicht. Die einzige Wolke da oben läuft Amok. “
Louisa stupst die Hagelkörner mit der Schnauze an. 
„Wie Wassereis. Fehlt nur ein bisschen Zucker, dann wär‘s gar nicht so übel.“
„Hätten wir bloß auf die Kollegen im Seeschiffcontainer gehört. Die haben am Burchardkai nebenan gleich wieder eingecheckt auf dem nächsten Bananendampfer zurück nach Costa Rica. Aber, die verehrte Louisa musste ja unbedingt diese silbernen Rieseneier beschnüffeln.“
Thadeus sieht zum Himmel auf. Von der Wolke fehlt jede Spur. 
„Meine Güte, Thadeus. Das sind die Faultürme der Kläranlage. Du stehst doch sonst so auf Hightech. Hat‘s dir da etwa nicht gefallen?“ 
„Doch schon, aber den kilometerlangen Marsch durch den maroden Untergrund hätten wir uns echt sparen können. Von den ganzen Zivilisationskrankheitsviren krieg ich Depressionen.“
Der fette Mann mit langem Bart, in einen roten Kapuzenmantel gekleidet, stürmt auf die beiden Weltenbummler zu. Er hält einen Stock in der erhobenen Hand. Der Stock fliegt durch die Luft, verfehlt Louise knapp.
„Scheiß Ratten!“
Louisa duckt sich. Ihre  Barthaare stoßen gegen den Rinnstein. So schnell sie kann, läuft sie dicht an den Steinen entlang und verschwindet um die nächste Ecke. Thadeus überholt sie. Louisa nimmt sein Schwanzende zwischen die Zähne und folgt ihm auf dem Fuße. Sie schlüpfen unter einen Pappkarton, der zwischen einer Batterie Papier- und Altglascontainern liegt. Es riecht streng nach Schnaps und Bier. Louisa würgt. Thadeus Stimme überschlägt sich:
„Fuck, was sind die aggressiv hier. Die ticken ja nicht richtig!“
Er setzt sich zu Louisa und schleckt ihr Fell ab. Louise schmiegt sich an Thadeus.
„Jetzt lass uns mal überlegen, wo wir sein könnten. Ich kenne nur ein Land, in dem Müll sklavisch getrennt wird. Wir sind doch richtig, Thadeus. Das ist Deutschland. Passt auch zu den schlechten Manieren.“
Louisa wackelt mit den Ohren. Thadeus lugt unter dem Pappkarton hervor.
„Geschenkt, Louisa. Zurück zum Thema. Wenn ich Mensch wäre, würde ich mich mal dringend drum kümmern, das Kanalisationssystem zu modernisieren. Die ollen Gemäuer stehen ja kurz vor dem Zerfall. Nicht auszudenken, wenn die Soße erst mal das Grundwasser verseucht hat.“
Louisa zieht mit den Zähnen an Thadeus Schwanz.
„Die Menschen sind zu blöd. Sei froh, dass du keiner bist, Thadeus!“
 Eine Böe erfasst die Pappschachtel und wirbelt sie durch die Luft.
„Mist, unser Versteck fliegt weg!“, schimpfen Thadeus und Louisa im Chor.
Im Windschatten der alten Jugendstilhäuser setzten sie ihren Weg fort. Louisa wie immer in Thadeus Schlepptau. Unrat soweit das Auge schauen kann. Na gut, gelogen, Louisa ist so kurzsichtig wie die Kollegen Maulwürfe. Dafür kann sie umso besser riechen: Hundekacke, Kotze, Ochsenschwanzsuppendose, Glühwein, Hackbällchen, Hustenbonsche, Pausenbrot mit Salami, Cornflakes, Pommes rot weiß, Pappbecher mit kaltem Kaffee, schimmeliges Toastbrot.
„Igitt, Menschenpisse!“, sagt Louisa und schnappt nach Luft.
Thadeus macht einen langen Hals und linst in den Kasten, einer architektonischen Missgeburt sondergleichen, der am Rande des schönen Platzes mit dem Brunnen und den alten Laternen überflüssig wie ein Krebsgeschwür ist. Der Mann im roten Kapuzenmantel steht breitbeinig vor einer Pinkelrinne und stopft seinen Penis in den Hosenschlitz.
„Lass uns abhauen, Louisa.“
Mehr sagt Thadeus nicht. Wozu Louisa unnötig aufregen?
„Ich find ja, Pisse riecht so schlecht nicht.“
„Sieh dich vor, Thadeus!“
Louisa beißt ihm in den Allerwertesten.
„Autsch!“
 Ein paar Tauben gurren. Sie zanken sich um ein Käsebrötchen und als die Ratten ihnen zu nahe kommen, nehmen sie Reißaus und flatterten davon.
„Oha, was sind das denn für arme Mädels? Die frieren sich ja tot, so nackig wie die rumlaufen?“, flüstert Thadeus.
Er bleibt wie angewurzelt stehen und Louisa kracht frontal in sein Hinterteil.
„Man, kannst du nicht Bescheid sagen!“
Sie reibt sich die Schnauze und atmet tief ein und langsam wieder aus.
„Fuck!“
Thadeus macht einen großen Bogen um eine Spritze im Gebüsch, an der angetrocknetes Blut klebt.
„Was denn für Mädels?“
Louise nimmt Witterung auf und horcht.
„Keine Ahnung, die stehen hier rum wie Falschgeld und warten auf den Bus oder so.“
Ein schwarzes Auto mit einem silbernen Stern vorne auf der Haube hält am Straßenrand. Die Scheibe der Beifahrertür surrt leise, während sie sich absenkt. Eins der Mädchen in einer verfilzten Wolljacke beugt sich zum Fenster hinunter, nickt und steigt ein. Louisa wackelt mit den Ohren und hält die Nase empor, schnuppert.
„Wenn das hier nicht so zum Himmel stinken würde, tät ich ja nichts Böses denken.“
Reifen quietschen. Eine fette Abgaswolke löst bei Louisa einen Hustenanfall aus. Das dauert, bis Louise wieder aufatmen kann.
„Wozu haben Menschen eigentlich Beine, Thadeus?“
„Weils besser aussieht.“
Louise wälzt sich im Dreck und zappelt mit den Pfoten in der Luft.
„Geil!“
„Ähm, ja … Wozu gibt’s überhaupt Menschen, Louisa?“
„Weil … Weil die so lecker kochen können.“
Zielsicher steuert Louisa auf einen angebissenen Cheeseburger zu, der mitten auf dem Weg herumliegt und knabbert dem angetrockneten Schmelzkäse einen Zickzackrand.
„Lass mal, Louisa, du wirst zu fett.“
Louisa lässt sich nicht stören und futtert für zwei. Thadeus schließt die Augen. Fast Food hat definitiv seine guten Seiten. Der Untergang des Abendlandes steht kurz bevor. Er kennt niemanden, der Menschen vermissen würde und Thadeus ist viel herum gekommen. Wanderratten sind keine Stubenhocker. 
„Kirchenallee und Deutsches Schauspielhaus“, liest Thadeus laut vor, während Louisa sich immer noch die Schnauze abschleckt.
 
„Ah, jetzt weiß ich, wo wir gelandet sind, Thadeus, in Hamburg, dem Tor zur Welt.“
Thadeus schüttelt den Kopf.
„Pah, Tor. Wo denn? Türchen zum Adventskalender von Klein Erna vielleicht. Das käme der Wahrheit näher.“
„Und die Kantine vom Schauspielhaus soll exquisite Extraklasse vom Feinsten sein.“
Sabber hängt Louisa am Schnauzenfell.
„Ich hab keinen Bock auf die Pfeffersäcke. Die sollen hier ne Rattenverordnung haben, ne Rattendatenbank, ne Ratten-Hotline, und Horden von Arbeitslosen werden zu Rattenkillern ausgebildet. Nee, das müssen wir uns nicht antun, Louisa, sonst fallen wir noch mal tot um!“
„Wo du recht hast, hast du recht, Thadeus, klügster und liebster aller meiner Schatzis!“
„Okay, dann mal zackzack ab in den Untergrund in Richtung  Hafen, Louise!“
Der Heilige Georg in Blattgold gehüllt zielt mit dem Schwert auf den Drachen. Ein Paar in extravaganten Lederhosen, die nackten Ärsche schauen daraus hervor wie rote Bäckchen, schlendern unterm Georg durch. Hand in Hand steuern sie auf die Bellini Bar zu. Men only steht quer über der Eingangstür in rosa Lettern. Der Autoverkehr quält sich von der Danziger Straße in Richtung Steindamm und der Wind trägt das Läuten der Glocken mit sich bis zur Böckmannstraße. Die Sonne steht tief im Westen. Lang sind die Schatten, die die Zwillingskirchtürme des Mariendoms auf den Platz vor der Caritas werfen. Brummbärtige Gestalten warten darauf, dass Schwester Hiltrud die Suppenküche öffnet: „Frohe Weihnachten!“

Keine Kommentare: