Es war ein Mann, der Steine hieb aus dem Fels. Seine Arbeit war schon schwer, und der Lohn war gering, und zufrieden war er nicht. Er seufzte und rief: »O wäre ich reich und ruhte in einer Sänfte mit Vorhängen von rother Seide!«. Da kam ein Engel vom Himmel und sprach: »Dir sei, wie Du gesagt hast!« Und er war reich und er ruhte in einer Sänfte mit Vorhängen von rother Seide. Da fuhr der König des Landes vorbei, Reiter zogen ihm voran, Reiter folgten ihm, und der goldene Sonnenschirm wurde über seinem Haupte getragen. Das verdroß den Mann, dass der König mächtiger war als er, und er rief: »Ich möchte König sein!« Und der Engel kam vom Himmel und sprach: »Dir sei, wie Du gesagt hast!«
so beginnt das alte indische Märchen vom Glück, wie es der holländische Verwaltungsbeamte Dekler, der Dichter Multatuli, von Java oder Sumatra mitgebracht hat. Das uralte Lied vom Sehnen und Wünschen, das uralte Lied vom Hoffen auf das Glück, das uralte Lied von der Unzufriedenheit und der Bescheidenheit.
Der Mann wird König, aber die Sonne ist stärker als er, trotz des goldenen Sonnenschirms. Er wird die Sonne und versengt die Erde, aber eine Wolke stellt sich vor die Sonne und hindert ihre Macht. Er wird die Wolke und läßt Ströme hinabregnen, die das Land verwüsten und das Vieh wegschwemmen, aber der Fels weicht nicht seiner Kraft. Er wird der Fels, der starr dastand, ob die Sonne schien, ob es regnete. Aber es kommt ein Mann mit der Hacke, dem Meißel, dem Hammer und schlägt Steine aus dem Fels. Da wünscht er dieser Mann zu sein, und auch dieser Wunsch wird ihm erfüllt. Er wird ein Steinhauer und schlägt Steine aus dem Fels, mit schwerer Arbeit, für geringenLohn …
»Und er war zufrieden«, so schließt das Märchen. Ob es wohl wahr ist? Wer das Menschenherz kennt, der sollte wohl meinen, das Märchen könnte wieder von vorn anfangen.
Wir kennen das Märchen vom Glück alle, nur in etwas anderer Form. Diese Geschichte von dem Steinhauer kommt wohl der Urform am nächsten. Sie hat das Motiv am reinsten und klarsten bewahrt, am wenigsten beeinflußt von anderen Ideen und Vorstellungen. Als die Völker sich trennten und von der Urheimat in alle Windrichtungen auseinander zogen, da nahmen sie auch die Sehnsucht nach dem Glück mit und auch das Märchen vom Glück. Im Laufe der Jahrtausende erlitt das Märchen allerlei Wandlungen, aber die Sehnsucht blieb und das Glück kam nie.
Ein weiser Mann in Vorderindien, erzählt der Pantschatantra, das alte Weisheitsbuch der Könige, hatte eine Maus aus der Lebensgefahr gerettet und beschloß, sie bei sich zu behalten. Er verwandelte sie in ein Mädchen. Als das Mädchen herangewachsen war, sollte sie auf Geheiß des weisen Mannes, der auch ein mächtiger Mann war, einen Gatten wählen. Sie will den Mächtigsten zum Gatten haben, den Sonnengott. Der Sonnengott aber, der ihre wahre Natur kennt, denn die Sonne sieht alles, mag sie nicht und sagt: »Nicht doch, die Wolke, die mich verhüllen wird, die ist viel mächtiger.« Die Wolke verweist sie an den Sturmwind, der sie dahinjagt, der Sturmwind an den Berg, an dem er sich bricht. Gerade will sie den Berg zum Gatten wählen, da sieht sie, wie eine Maus ein Loch durch den Berg wühlt …
Hier ist an Stelle der einfachen Erhabenheit der ersten Geschichte der Humor getreten. Das Mädchen – schon das ist bezeichnend, daß es ein Mädchen ist – will den Mächtigsten wählen, aber jeder schiebt einen Mächtigeren vor, bis sie schließlich auf diesem Umwege zum Anfangspunkte zurückkehrt und der Ring sich schließt. Die Idee des Strebens nach dem Glücke ist zurückgedrängt, und die andere Idee, daß jeder Mächtige noch einen Mächtigeren hat, überwiegt. Hier ist es das Unscheinbare, was schließlich am meisten vermag: die Maus, die ja auch den Löwen aus seinen Stricken herausnagt.
Ein Tschandalamädchen – so erzählt das indische Buch Somadewa – wollte den Mächtigsten zum Herrn haben. Sie folgte dem Könige auf seinem Umritte durchs Land. Da kamen sie an einem Tempel vorbei; hier machte der König Halt, stieg vom Pferde und warf sich vor dem Götzen nieder. Da sah das Mädchen, daß das Steinbild mächtiger sein müsse und es wollte diesem dienen. Aber ein Hund kam und that an dem Steinbilde, wie manchmal respectlose Hunde thun, und das Steinbild duldete es. Doch ein Tschandalajüngling kam und prügelte den Hund, und ihm diente das Mädchen.
Hier ist der Humor schon ins Burleske übergeschlagen und die Idee des Märchens vom Glück so beinahe gänzlich verwischt.
Wer kennt nicht das deutsche Volksmärchen vom »Fischer un sine Fru«? Der Fischer hat durch Zufall Gewalt über einen Zauberfisch bekommen, den »Butje, Butje in den See«, und der muß ihm Wünsche erfüllen. Aber nicht er ist es, der immer wieder Wünsche hat, er wäre mit einer bescheidenen Aufbesserung zufrieden: Die Frau ist es, die immer mehr begehrt – »Mine Fru de Ilsebill, will nicht so as ick woll will –«. Sie wird schließlich Kaiser, ja sogar Papst, und zuletzt will sie der liebe Gott sein … da verfliegt das Glück und sie finden sich in ihrer elenden Hütte wieder.
Das Märchen erinnert in seinem Grundzuge an das vom Steinhauer. Es ist nur nicht die natürliche Sehnsucht nach dem Glück, die jeden Menschen innewohnt, es ist eine krankhafte Großmannssucht, die diese Evastochter beseelt und die schließlich aus dem Paradiese heraustreibt. Es ist etwas Herbes, etwas Weiberfeindliches darin, ganz anders, wie in den beiden indischen Geschichten, die das Treiben des naiven Dinges mit überlegenen Lächeln zu sehen scheinen. Auch die Führung der Erzählung steht nicht auf derselben Höhe. In den indischen Märchen haben wir überall einen sich von selbst schließenden Ring, eine leicht gleitende Entwicklung, die den Helden oder die Heldin zu ihrer Natur zurückführt, – das deutsche Märchen vermag das nicht, es führt die Rückkehr plötzlich und plump durch einen jähen Sturz herbei: zur Strafe für ihre Vermessenheit werden beide, die Schuldige und der Mitschuldige, wieder das, was sie waren! Das ist ein neues Motiv, aber kein besseres; es ist, als ob die Stiefmutter mit drohend geschwungener Ruthe in einen Reigen harmlos spielender Kinder stürzte.
Feiner ist in dieser Hinsicht die verwandte Geschichte von »Hans im Glücke«, die eine ähnliche Idee in umgekehrter Reihe, in absteigender Linie verfolgt. Hans hat für langjährige, schwere Arbeit einen Klumpen Gold erhalten und wollt heimwärts. Aber der Klumpen ist ihm zu schwer, er tauscht ihn gegen ein Pferd ein, das Pferd, das ihn abwirft, gegen eine Kuh, die sich nicht melken läßt, diese gegen ein Schwein, eine Gans und schließlich gegen ein paar Schleifsteine, die er in den Brunnen wirft, weil er sie nicht mehr schleppen mag. So kommt er arm, aber lustig zu Hause an. Der Ring hat sich zwanglos geschlossen.
Hierher gehören auch die mancherlei Geschichten von den drei Wünschen, wie der hübsche Scherz, wo die Frau wünscht, daß zu der einfachen Speise ein paar Würstchen wären, worauf die Würstchen da sind – ein Anklang an das Tischlein deck dich, auch eine Form ersehnten Glückes, unter vielen anderen – der Mann ruft: »Wenn Dir doch bloß die Würste an der Nase hingen!«, womit auch der dritte Wunsch verwirkt ist, denn was sollte er machen? Er mußte die Würste wieder von der Nase herunter wünschen. Zu dieser Geschichte gibt es zahllose Varianten.
Hier thun sich noch weite Parallelen auf, zum Wunschhütchen, zur Tarnkappe, zum Schlaraffenland, und andererseits finden wir Anklänge an die griechischen Mythen vom Ikarusfluge, von der Fahrt des Phaethon, von Philemon und Baucis und vielerlei anderes.
Das weiter auszuführen möchte ich nun dem geschätzten Leser selbst überlasse, wie ich es ihm auch anheim geben muß, sich mit seiner Sehnsucht nach dem Glücke nach besten Kräften abzufinden. Da kann kein Mensch den anderen helfen, ich auch keinem, und keiner mir.
Karl Mischke
Innsbrucker Nachrichten
15. Januar 1901, S.1 f.