Dienstag, 6. August 2013

Das Wolfskind

Bildquelle: Wikipedia

Als diese Kaufleute in die Nähe der Residenz des Königs Kütschün-Tschidaktschi kamen und an einem Flussarm das Nachtlager aufgeschlagen hatten, nahten Wölfe und begannen zu heulen. Die Kaufleute pflegten das indische Wolfskind Schalû zu nennen. Daher fragten sie den Jungen: »Schalû, was sagen diese Wölfe?« »Diese Wölfe«, antwortete Schalû, »sind meine beiden Eltern; sie sagen: ›fünf oder sechs Frauen zogen des Weges und liessen dich, als du geboren wurdest, bei uns zurück; da haben wir dich aufgezogen und gross gemacht; ohne unserer Wohlthat zu gedenken, hast du nun mit Menschen dich befreundet? Diese Nacht kommt ein Regen und da der Fluss eine gewaltige Überschwemmung anrichtet, so werden die Kaufleute sich in Sicherheit zu bergen suchen; bei dieser Gelegenheit komm du, unser Liebling, wieder zurück. In der Nähe lauert dir ein Dieb auf‹«. Und in der That lag der Prinz Vikramâditja, in der Absicht einen Diebstahl auszuführen, in der Nähe auf der Lauer. Als er nun hörte, wie Schalû seinen Gefährten die Worte der Wölfe mittheilte, dachte er: »Dieser Kenner der Wolfssprache ist kein gewöhnlicher Mensch. Dass ein Regen kommt, mag eine Lüge sein; aber wie konnte er wissen, dass ich auf der Lauer liege?« Und indem er umkehrte, sagte er: »Dir werde ich alle Nacht aufpassen!« Nach dieser Drohung entfernte er sich. Die Kaufleute aber änderten in Folge von Schalû's Verständniss der im Wolfsgeheul enthaltenen Worte ihren Aufenthaltsort und liessen sich auf einem vierseitigen Berge nieder. Als in der Nacht der Regen in Strömen goss und der Fluss mächtig über die Ufer trat, sagten die Kaufleute zu einander: »Ohne Schalû hätten wir umkommen müssen!« und gaben dem Schalû Schätze in reichlicher Menge zur Belohnung.

aus:
Ardschi-Bordschi (Vikramâditjas Geburt)
enthalten in:
Bernhard Jülg: Mongolische Märchen. Innsbruck, 1868

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