Freitag, 2. März 2012

Tiger und Jäger

Der Tiger hatte den Jäger Satthvananda gefangen. Zufrieden lag das Raubtier da, weil es zuvor ein Reh gefressen hatte und hielt den Jäger mit seiner mächtigen Pranke am Boden fest,.
„Warum frisst du mich nicht?“ fragte Satthvananda.
„Ich bin satt“, schnurrte der Tiger zufrieden.
„Dann lass mich doch gehen, ich nütze dir ja nichts.“
„Satt werde ich nicht ewig sein“, sagte der Tiger. „Dann bist du mir gerade recht.“
Der Jäger überlegte, wie er sich aus den Pranken des Tigers befreien könnte. Der erste Schreck war verflogen und die Zufriedenheit des Tigers schien ihm eine gute Gelegenheit zu sein.
„Hör zu“, sagte Satthvananda. „Lass mich einfach gehen. Wenn du dann Hunger hast, kommst du zu mir. So kann ich zwischenzeitlich noch einiges erledigen und muss nicht müßig herumliegen.“
Der Tiger schwieg und so fasst der Jäger nach.
„Außerdem habe ich selbst Hunger. Wenn ich ausgehungert bin gibt es später an mir nicht viel zu fressen.“
„Du wirst dich von mir fressen lassen, wenn ich das einfordere?“
„Ich werde dir etwas anderes anbieten, als Ersatz für mich. Wenn dir das nicht schmeckt, dann kannst du mich fressen.“
Der Tiger zog seine Pranke zurück.
„Gut“, sagte er. „Ich bin heute gut gelaunt und es interessiert mich, ob du Wort halten wirst. Versuchen wir es einmal.“
Der Jäger erhob sich und atmete auf.
„Zuvor schwörst du mir aber, dass du dich an dein Wort hältst und mir keine Falle und keinen Hinterhalt stellst. Wenn du dein Wort brichst, werden alle Tiere des Waldes dich jagen. Du wirst dann nicht mehr lange zu leben haben.“
Als Satthvananda sich umsah, bemerkte er, dass im Kreis um ihn herum andere Tiere standen – der Panther, der Wolf, die Hyäne, das Schwein, die Schlange und andere, die zugehört hatten. In den Bäumen saßen Vögel und die Affen und schauten auf ihn hinab.
„Ich schwöre es, ich halte mich an mein Wort. Du bekommst von mir Ersatz angeboten und erst, wenn es dir nicht als gerechter Ausgleich für mich dient, darfst du mich selber fressen. Nach einem Jahr bin ich aber frei - ewig kann das ja nicht gehen. Außerdem verspreche ich, dir keinen Hinterhalt zu legen und keine Falle zu stellen.“
„Einverstanden!“ sagte der Tiger und ließ den Jäger gehen.
*
Am nächsten Tag erschien der Tiger beim Jäger. Der hatte ihm sein fettestes Schaf aus der Herde geholt. Der Tiger sagte nichts, nahm das Schaf und verschwand. Drei Tage später war er  wieder da. Satthvananda hatte ihm ein Schwein bereitgestellt. Der Tiger ließ eine Woche vergehen, bevor er wieder auftauchte. Der Jäger gab ihm seinen besten Ochsen. Und so ging es fort. Der Tiger ließ je nach Größe des Tieres wenige oder viele Tage vergehen, bevor er wieder auftauchte und stumm die Abmachung einforderte. Dann war das Jahr fast herum. Als der Tiger wieder kam, sagte er:
„Ich habe nun fast alle Tiere deiner Herde gefressen. Die paar Hühner, die du noch hast, die dürren Ziegen und das altersschwache Pferd, das mag ich nicht. Gib mir deine Tochter.“
Der Raubkatze war die hübsche Tochter des Jägers schon länger aufgefallen und es dünkte ihm, dass dieses junge Mädchen an der Schwelle zur Frau eine ganz besonders schmackhafte Speise für ihn abgeben würde. Er hatte sich schon zurückhalten müssen, um ihr nicht aufzulauern und einfach wegzuschleppen.
Satthvananda wurde blass.
„Nein“, sagte er. „Du kannst alle Tiere haben. Ich kaufe auch noch welche hinzu. Wenn du morgen wieder kommst, habe ich das fetteste Schwein, den größten Ochsen oder auch alles beide hier.“
„Deine Tochter“, sagte der Tiger. „Nichts anderes. Morgen bin ich wieder da. Sieh zu, dass sie bereit steht.“ Dann verschwand er.
Als er am nächsten Tag wieder kam, stand Satthvananda alleine da, nackt, nur mit dem Lendenschurz bekleidet.
„Wo ist das Mädchen“, fauchte der Tiger. Doch Satthvananda schüttelte den Kopf.
„Nimm mich. Meine Tochter bekommst du nicht.“
Der Tiger sah sich um.
„Ich habe sie fortgeschickt“, sagte Satthvananda. „Wir haben nie davon gesprochen, dass du etwas einfordern kannst. Abgemacht war, dass ich dir zu Fressen gebe und wenn es deinen Zuspruch nicht findet, du mich nehmen kannst. Sieh her - hier bin ich.“
Der Tiger sah ihn aus seinen großen, schräg stehenden Augen an.
„Ich habe auch versprochen, dir keine Falle zu stellen. Und das habe ich gehalten. Jetzt brich nicht du dein Wort. Alle im Wald haben es gehört und wie sie mir zugeschaut und zugehört haben, ob ich mein Wort halte, so haben sie auch auf dich geschaut.“
Satthvananda wies an den Tiger vorbei und als der sich umwandte, da sah er den Panther, den Wolf, die Hyäne, die Schlange und all die anderen. Er sah aber auch mit seinen scharfen Augen, ganz weit hinten die Tochter des Jägers gehen, die dieser weggeschickt hatte, um in der fernen Stadt sicher zu sein vor der Raubkatze. Weil der Tiger aber die Gier nach ihr schon ganz tief in sich hineingefressen hatte, drehte er sich um und jagte dem Mädchen hinterher. Es war schon weit weg, doch der Tiger war schnell. Er holte auf und hätte sie sicher erreicht, wenn er nicht zuvor eingebrochen und in die Falle des Jägers gestürzt wäre. Da hing er nun zwischen den angespitzten Stäben und sah mit dem Blut sein Leben davon fließen. Bald kam auch Satthvananda und sah zu ihm herab.
„Du hast doch eine Falle gebaut“, stöhnte der Tiger. „Dein Wort ist gebrochen.“
„Diese Falle wäre nicht für dich gewesen, wenn du meiner Tochter nicht gefolgt wärst. Du hast alles von mir haben können, sogar mich selbst. Aber auf meine Tochter oder irgend ein anderes Menschenkind hattest du kein Recht. Solange du dich an die Abmachung hieltest, hielt ich mich auch an meine. Erst als du dich gestern vor lauter Gier aus dieser Vereinbarung gestohlen hattest, habe ich diese Falle errichtet.“
Der Tiger stöhnte laut auf. Er wollte heraus und den Jäger in der Luft zerfetzen – aber es ging nicht.
„Hätte ich dich doch damals zerrissen und gefressen“, brüllte er zu Satthvananda hinauf.
Der antwortete: „Ein Jahr lang hast du mehr von mir gehabt, als damals, als ich unter deiner Pranke lag. Und auch heute wäre diese Falle für dich kein Problem gewesen, wenn du mich genommen hättest. Erst von dem Augenblick an, wo du meiner Tochter folgtest, war diese Falle für dich gedacht.“
Das Leben schwand dem Tiger immer mehr, kaum sah er noch etwas. Aber die letzten Worte des Jägers hörte er noch gut.
„Ich habe deine Stärke bewundert und deine Großzügigkeit. Deshalb ist es mir nicht schwer gefallen, dir mein ganzes Vermögen zu verfüttern. Aber gestern hast du das alles zerstört. Ich werde dich auch nach deinem Tod hier nicht herausholen, sondern dich vermodern lassen und dein Fell und dein Fleisch den Geiern, Hyänen und Würmern überlassen. Du bist es nicht mehr wert, das man dir im Tode noch Ehre erweist.“
Dann drehte er sich um und ging.
Bevor er starb, dachte der Tiger noch: „Für einen Augenblick der Gier verfallen – damit ein ganzes Leben verwirkt!“
Dann riss ihn der Tod in die Vergessenheit.



Horst-Dieter Radke

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