Freitag, 10. Juni 2011

Der Kiesel und das Saamenkorn


Neben einem Kiesel lag tief in der Erde ein Waitzenkorn, und schien schon gänzlich vernichtet zu seyn, als ein schöner Keim und bald darauf ein noch schönrer Halm aus ihm aufschoßte. »Wie ist das möglich? rief der Kiesel verwundrungsvoll: Du in meinen Gedanken schon ganz Verwester, lebst mit neuer Jugendkraft wieder auf? Ich hingegen, bin ich einmal zerknirscht, hab’ alsdann auch meine Kräfte verloren für immer!

der gewöhnliche Unterschied der störrischen und saftmüthigen Geschöpfe, versetzte das Saamenkorn. Jenes widersteht länger einer Gefährlichkeit: aber unterliegt es ihr einmal; so unterliegt’s auf ewig. Der Sanftmüthige dauert gelassen die Stunde der Prüfung aus, und tritt, wenn sie vorüber oft mit verstärktem Glanz hervor.

Fabeln nach Daniel Holzmann
weiland Bürger und Meistersänger zu Augspurg
herausgegeben von A.G. Meißner
Carlsruhe, bey Christian Gottlieb Schmieder, 1783

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