Montag, 30. November 2015

Die Preisfrage

Die Akademie zu Dorndorf warf diese Preisfrage auf: Was ist jetziger Zeit für ein Unterschied zwischen einem Lehrjünger Ulpians, und einem Anfänger in der neuern Philosophie?

Lange blieb die Frage unaufgelöset. Endlich erhielt jener den Preis, der sagte: Die Rechtsgelehrte unsrer Zeit lernen eher schreiben als denken; die Schüler der neuern Philosophie hingegen eher denken als schreiben.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner

Donnerstag, 26. November 2015

Die Werwolf-Probe

Eines Tages brachten Bauern einen Mann nach Königsberg zu Herzog Albrecht von Preußen (*1490 - +1568), den sie für einen Werwolf hielten. Er sah verwildert aus und hatte im Gesicht Narben und Wunden. Der Mann sagte, dass diese von Hunden stammten, die ihn verfolgten, wenn er sich als Werwolf verwandelte. Dies würde zweimal im Jahr geschehen, einmal zum Johannisfest und dann zu Weihnachten. Er würde die Gestalt eines Wolfes annehmen, in die Wälder laufen und sich zu den echten Wölfen gesellen. Die Verwandlung würde ihm nicht leicht fallen, gab der Mann zu. Jedes Mal würde ihn große Angst überkommen, bevor die Haare ausbrächen und der Wolfspelz wuchs. Das alles schien sehr glaubhaft zu sein, doch wolle man sich selbst davon überzeugen. Deshalb behielt man ihn im Schloss, bis die Zeit der Verwandlung kam. Aber der Mann blieb ein Mensch und wurde kein Wolf.

Erzählt nach einer alten ostpreußischen Sage

Dienstag, 24. November 2015

Der Vogel und die Affen

Es lebte einmal in einem Walde eine Affenherde; einst an einem kalten Tage sahen die Affen einen Leuchtkäfer, den sie für ein Feuer hielten. Sie fingen ihn, legten Laub und dürres Gras darauf und hofften, damit ein Feuer anzuzünden; einer von ihnen blies noch mit vollen Backen den Leuchtkäfer an. Dies sah der Vogel Spitzschnabel und sprach zu ihm: »Das ist ja kein Feuer, das ist ein Leuchtkäfer. Gib dir keine Mühe!« Der Affe kehrte sich nicht an diese Worte, sondern fuhr fort mit Blasen; da stieg der Vogel vom Baume, näherte sich ihm und wollte ihn mit aller Gewalt von dem törichten Beginnen abhalten. Darob erzürnte sich schließlich der Affe und warf einen Stein nach dem Spitzschnabel, daß er zermalmt wurde.
***
»Deshalb soll man dem nicht raten, der Belehrung nicht annimmt.

aus:
Somadewa
KATHÂSARITSÂGARA
Übersetzt von Dr. Hans Schacht
1918, Leipzig und Lausanne

Montag, 23. November 2015

Der Krieger, der seinen Zorn bezähmt

Im Dienste des Königs Kuladhara stand ein gewisser Surawarman, ein Krieger, der aus guter Familie entsprossen war und dessen Mut allgemein anerkannt wurde. Als er einst unvermutet aus einem Feldzuge nach Hause kam, traf er seine Frau in freiem, ungestörtem Verkehr mit seinem eigenen Freunde. Er sah es, aber charakterfest wie er war, bezähmte er seinen Zorn, indem er überlegte: »Was nützt es mir, wenn ich dieses Vieh, diesen falschen Freund getötet habe, oder wenn ich mich an dieser Ehebrecherin wegen ihres sündhaften Wandels vergreife? soll ich noch Sünde auf mich laden?« Er rührte sie also nicht an, sondern sagte nur: »Wer von euch beiden mir wieder zu Gesichte kommt, den werde ich töten. Tretet mir nicht wieder vor die Augen!« Mit diesen Worten ließ er sie laufen, so weit sie wollten, dann nahm er sich ein anderes Weib, mit der er glücklich da wohnen blieb.
»Wer seinen Zorn bezwingt, mein Fürst, der kann niemals dem Kummer zur Beute fallen, und wer Klugheit besitzt, der kommt nicht um.

aus:
Somadewa
KATHÂSARITSÂGARA
Übersetzt von Dr. Hans Schacht
1918, Leipzig und Lausanne

Mittwoch, 18. November 2015

Der Löw und seine Feinde

Dem Löwen fielen in einer Krankheit alle Haare weg. Seine Feinde nahmen hieraus Gelegenheit ihn zu verkleinern, und sagten: „Er sieht keinem Löwen mehr ähnlich. Er ist auch kein Löwe mehr.“


Der Löw erfuhr es, und sagte nichts anders darauf, als: „Meine Handlungen werden es zeigen, daß ich ein Löwe bin.“

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Montag, 16. November 2015

Das mittelalterliche Franken

Dass das Mittelalter nicht nur Fabeln kannte, ist in meinem neuen Buch nachzulesen: Mittelalterliches Franken.

Es ist nicht einfach ein »Geschichtsbuch« sondern auch ein Reiseführer für die heutige Zeit. Es sind viele Tipps drin, wo man das Mittelalter in Franken heute noch sehen kann.

Mittwoch, 11. November 2015

Kuh und Bache

Kuh und Bache wohnten, so geht die Mär, zusammen in einem geruhigen Tal. Sie bekamen zur selben Zeit Junge. Sprach die Bache zu ihrer Gefährtin: »Schau, wie fruchtbar ich bin, und wie viel schöner ich mit meinen vielen Kleinen bin als du!« Die Kuh antwortete: »Laßt uns ins Dorf gehen und den Leuten unsere Nachkommenschaft zeigen; wer von uns verhöhnt wird, soll die Häßlichste sein.« Die Bache willigte ein, und beide begaben sich auf den Weg. Die Kuh trabte zuerst durch die Gassen; als die Leute sie sahen, sagten sie: »Schaut mal, welch herrliche Kuh! Seht, was für ein niedliches Kälblein sie bei sich hat!« Die Bache folgte ihr unmittelbar; als die Leute sie sahen, höhnten sie und riefen: »Seht einmal das garstige Wildschwein an!«

Daher trägt das Wildschwein stets den Kopf zum Boden gesenkt; es schämt sich der Worte der Menschen. Die Kuh aber hält das Haupt hoch empor, denn sie ist auf die Schmeicheleien stolz.

Paul Hambruch
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
 Jena: Eugen Diederich, 1922.

Mittwoch, 4. November 2015

Zum Herbst: Fabel


Ein jüngst noch dick belaubter Baum
Sah seines Wipfels Pracht erbleicht zu seinen Füssen,
Und, wie des Bodens runder Raum,
Den die so angenehm begrünten Schatten
So oft geschützt, so oft bedecket hatten,
Den lieben Kinderchen zum Kirch-Hof werden müssen.
Es riß der kalt' und rauhe Nord
Den dünnen Ueberrest noch immer mit sich fort,
Sie taumelten recht Schaaren-weis' herab,
Und suncken in das finstre Grab.

Er schien, in dunckler Farb', ihr sterben zu betrauren,
Und, in der Kinder Fall, sich selber zu bedauren.
Dieß heimliche Geseuftz, dieß still' und bange Klagen
Vermochten einige der Blätter, die noch grün,
Und deren frische Farb' fast unverwercklich schien,
Nicht zu vertragen.

Sie sprachen: Traure nicht! wir wollen bey dir bleiben,
Uns wird kein Wind, kein Frost vertreiben.
Sieh nur, wie grün wir noch, wie frisch; wir fühlen nicht,
Daß uns, an Kraft, an Schönheit, was gebricht.

Allein, fast in derselbigen Secunde,
Erstarrt' ihr kühnes Wort in ihrem kleinen Munde.
Ein kalter Hauch den Eurus von sich bließ,
Der ihnen seine Stärck', und ihre Schwäche wies,
Griff ihren zarten Leib so grimmig an,
Daß ihnen Leben, Muth, und alle Kraft
Vergieng, entwich, zerrann.
Es stockt ihr Lebens-Saft;
Es schrumpft ihr Cörper ein; sie zittern jämmerlich;
Ein ängstlich Seufzen scheint ihr lispelndes Gezische;
Sie beben, und sie krümmen sich:
Es scheint, als ob man sie recht von den Zweigen wische.
Sie hielten bloß darüm, dieweil die Reih
Sie etwas später traff, sich fast vom welcken frey.

Lasst diese Blätterchen, ihr noch gesunden Alten,
Bey euch des Lehrers Amt verwalten!
Ein Augenblick stürtzt sie herab:
Ein Augenblick stürtzt euch ins Grab.

Berthold Heinrich Brockes
1680-1747

Sonntag, 1. November 2015

Die XXVII. Fabel/Von dem Wolff und dem Kitze


Wo jemand bezwungen würd / under zweyen uberbösen dingen eines zuerwehlen / so ist doch das minder schmählich auffzunemmen / Darvon hör diese Fabel.

Ein Kitze gieng auf einem Anger / nahe bey seinem Hauß / zu dem kam ein Wolff / inn meinung das zu fressen / Aber das Kitze entrann im von der statt under die Schafe. Da aber der Wolff mercket / daß er es nach seinem willen nicht haben mochte in frevel / gedachte er das mit listen unnd schmeichelwort zu ihm bringen und sprach zu im: O du thörichtes Thier / was suchest du hie in dieser statt / sihest du nit wie hie in dem Tempel das Erdtreich unsauber und blutig ist von den Thieren / die man täglich den Göttern opfferet unnd ertödtet / stick dich nit in die sorge / daß du alle stund des todts warten müssest und gehe herauß auff den grünen Anger / da du in freyheit leben magst. Das Kitze antwort unnd sprach: O Herr Wolff leg hin dein sorg das bitte ich dich / dann weder mit treuw / noch mit falsche rath bringst du mich hinauß zu dir / dannh ob ich meines lebens und blut vergiessen müste besorgen / so were mir doch lieber / das geschehe den Göttern zu ehren / dann das ein freysamer Wolff von mir gesettiget würde.

Esopus Teutsch/
Das ists:
Das ganze Leben und Fabeln Esopi/
mit sampt den Fabeln Anianai/
Adelfonsi und etlichen Schimpffreden Pogij,
darzu Außzüge von fabeln und Exempeln des Sebastian Brand.
1594