Dienstag, 30. Juni 2015

Fabel vom Wolf

Ein Wolf viel jaemerlichen sprach:
Wâ sol ich nû belîben,
Sît ich dur mînes lîbes nâr
Muoz wesen in der âhte?
Darzuo sô bin ich geborn, diu schult, diun ist nicht mîn;
Vil manic man hât guot gemach,
den man siht valscheit trîben
unt guot gewinnen offenbâr
mit sündeclîher trâhte;
der tuot wirser vil, dan ob ich naem ein genslein.
Jân hab ich nicht, des goldes rôt
Zegebene umb mîne spîse,
des muoz ich rouben ûf den lip durch hungers nôt,
der valsch in sîner wîse ist schedelîcher, dan ich,
unt wil unschuldic sîn.


Süßkind von Trimberg

Sonntag, 28. Juni 2015

Der Hänfling und die Lerche

Ein Hänfling hörte oft in lehrbegierger Ruh
Den holden Nachtigallen zu;
Und einst, einst schlug die kleine Philomele
Mit ganz bezaubernd süßer Kehle
Das Chor der Vögel schwieg, entzückt durch jeden Ton,
Und Büsch’ und Bäume tanzten schon.
Die Schönen kamen um die Wette,
Die kleine Blonde, die Brunette;
Und nie ward dieser Zauberklang
Der flüchtgen Galathee zu lang;
Und Doris, die erst nicht den Thirfis leiden wollte,
Die bat nunmehr, daß er doch mit ihr gehen sollte;
Und da ihr lauschend Ohr den süßen Ton empfand,
Litt’ sie den Kuß auf Mund und Hand,
Und ließ, bey so entzückendem Vergnügen,
Den losen Schäfer willig siegen,
Und dabey noch der Freude Thränen sehn.
Wie konnte sie ihm widerstehn?
Ach Philomele sang zu schön!

Das kleine Ding hat gar zu feine Gaben;
Wie gerne möcht’ ich es in einem Käfig’ haben.

War auch der Hänfling da? Ja, auf dem nächsten Zweig,
Und lernte mehr und mehr, und ward empfindungsreich;
als eben, voller Neid, die Lerche, die itzt kam,
Den Hänfling und das Lied der Nachtigall vernahm.
Das Närrchen singt? rief sie. O eine schlechte Gabe!
Ich schwör, ob nicht der Kukuk besser singt,
Der Wiedehopf, die Aelster und der Rabe,
Als Philomelens Stimme klingt.
Und, schöner Hänfling, du
Weihst ihr die stille Abendruh?
Erregt ihr Lied wohl mehr, als ein verzärtelt Sehnen?
Wohl mehr, als Doris weiche Thränen?
O steig mit mir empor, und hör der Lerche zu!
Nein! rief der Hänfling, wie ich sehe,
Liebst du nur deine stolze Höhen,
Dein Lied ist mir zu schwer,
Von Philomelen lern ich mehr.

***

Du singst ein Heldenlied. Wird auch die Welt gebessert,
Wenn, was schon groß genug, dein Lied noch mehr vergrößert?
Was nützs der Erde denn, wenn du den Himmeln singst?
Dich in Gedanken stets hoch in die Wolken schwingst?
Du denkst: ich sing den Ewigkeiten.
O sing, ich bitte dich, doch erst für unsre Zeiten!
Die Nachwelt lobt dich warlich nicht,
Und lacht nur über dich und über dein Gedicht;
Denn, lieber Freund, wie Klopstock singst du nicht.
So bleibe doch im Thal, und sing, wie Philomele,
Dem Mensch mit edlem Trieb’ Empfindung in die Seele.
Schaff, daß es Nutzen bringt. Sing lehrreich, zärtlich, schön:
So wirst du dich bald groß, berühmt und glücklich sehn.
Setz dich zu Hagedorns und Gellerts Füßen nieder,
Und lerne ihnen ab. Sing selbst so schöne Lieder:
So folgt dir allgemein der größte Beyfall nach;
Wo nicht: so merke dir, was vor der Hänfling sprach.

Anonymus, aus:
Nachahmungen in Fabeln und Erzählungen
Nebst einem Anhange anderer Gedichte
Dresden und Leipzig
In der Gerlachischen Buchhandlung
1761

Dienstag, 23. Juni 2015

Kurze Geschichte der Fabel

(Neufassung)

Fabeln sind kurze, lehrhafte Erzählungen, in denen Tiere handeln und agieren. Es gibt sie in der Erzähltradition fast aller Völker. Mit zu den ältesten Fabelsammlungen gehört die indische Sammlung Pantschatantra, die vermutlich im 3.-2. Jahrtausend v. Chr. zusammen gestellt wurde. Die heute bekannten Texte stammen aber aus dem 3.-6. Jh. n. Chr. Fabeln sind auch aus dem alten Ägypten bekannt.

Ausgangspunkt in der europäischen Fabeltradition ist Äsop (um 600 v.Chr.). Zur mittelalterlichen Schullektüre gehörten lateinische Fabelsammlungen. Einer der ersten Fabeldichter, der die Mittelhochdeutsche Sprache nutzte, war der Stricker (13.Jh). Große Beliebtheit genoss die Fabel im Humanismus und in der Reformationszeit. Hans Sachs (1494-1576) und Martin Luther (1483-1546) bereicherten die Fabeldichtung nicht unwesentlich. Danach wurde die Fabel erst im 17. Jh. wieder populär, durch La Fontaine (1621-1695) in Frankreich und durch ihn angeregt im 18. Jh. auch in Deutschland. In dieser Zeit gab es eine Motivverschiebung: An Stelle der moralischen Belehrung trat nun die Betonung der bürgerlichen Lebensklugheit. Aus der Vielzahl der Fabeldichter des 18. Jahrhunderts sind von Friedrich von Hagedorn (1708-1754), Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) und Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) zu nennen.

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der sich mit seinen Fabeln wieder an Äsop orientierte, brachte die Fabel zu einem Höhepunkt und schloss diese Entwicklung weitgehend ab. Es gab danach zwar immer noch eine hohe und deutliche Produktion an Fabeln bis ins 19. Jh. hinein, aber sie wurde meist zur Belehrung von Kindern und Schülern eingesetzt, so z.B. von dem Pfarrer Wilhelm Hey (1789-1854).

Moderne Dichter des 20. Jahrhunderts griffen die Fabel gelegentlich auf. Beispiele finden sich bei Franz Kafka (1883-1924), Berthold Brecht (1898-1956), Wolfdietrich Schnurre (1920-1989).

Ausführlicheres über die Fabel ist hier zu finden.

Horst-Dieter Radke

Freitag, 19. Juni 2015

Der Uhu und die Lerche



Es saß ein Uhu lange Zeit
Im Schatten einer hohlen Eiche,
Der höchsten in dem deutschen Reiche,
In einer öden Traurigkeit.

Hoch über ihm ließ sorgenfrei
Sich eine muntre Lerche hören,
Und meldete der Sänger Chören,
Daß jetzt der Frühling nahe sey.
Ihr Lied dringt aus den heitern Lüften
In's grüne Thal, belebt die Triften.
Der Uhu horcht, und ächzt dabei,
Daß er nicht auch so fröhlich sey.

Die Ungeduld ermuntert ihn,
Sich aus dem Neste zu bemühen;
Die feige Lerche wollt' entfliehen,
Sie wollt' es noch, als er erschien.
Doch war der armen Lerche bange
So dauerte die Angst nicht lange,
Als sie zu ihrem Trost vernahm,
Daß er in Friede zu ihr kam.

Es schien dem Uhu zweifelsfrei
Das Lerchenfleisch noch nichts zu taugen,
Er schwur bei seinen großen Augen,
Daß er für jetzt nicht hungrig sey.
Die Neugier, sprach er, dich zu fragen,
Hat mich an diesen Ort getragen.
Bekenne, was die Ursach' ist,
Daß du beständig fröhlich bist?

Monarch der Eulen, sagte sie,
Wer stets gesunde Tage zählet,
Und fliegen kann, wohin er wählet,
Wie kann der trauren? Fragst du, wie?
Fiel ihr der Uhu in die Rede,
Du scheinst ja sonst mir ziemlich blöde,
Gedenkst du niemals an den Tod,
Noch was dir Herbst und Winter droht?

Ich denke, sprach sie, wohl daran,
Allein der Tod ist unvermeidlich,
Die Herbst- und Winternoth oft leidlich,
Und jetzt geht ja der Frühling an.
Ich leb' indessen nach der Lehre,
Die ich von jenem Schäfer höre,
Der dort im Grünen vor uns liegt,
Ein Weiser sey nie mißvergnügt.

Geh' nur, du kleine Närrin du,
Fiel der Bescheid aus, das sind Lehren,
Die für die Lerchen nur gehören;
Die Lerche flog dem Schäfer zu,
Und sang ganz heimlich auf der Reise:
Wer fröhlich seyn will, der sey weise.

*

Merkt, Freunde, was die Lerche spricht,
Und kehrt euch an die Uhu's nicht.

Magnus Gottfried Lichtwer


Donnerstag, 18. Juni 2015

Der Wolf und die zwei Bauern




Der Wolf mußte mit Schaden und Schande von der Wohnung des Fuchses abziehen, aber heimkehren wollte er nicht eher, als bis ihm sein Schmuck, der Zagel, gewachsen wäre. Nun ging er allein auf Abenteuer aus, sobald ihn sein unbändiger Hunger dazu trieb; das war aber nicht sehr lange, denn von dem Hochzeitsschmause war ja fast nichts in seinem Bauche geblieben. "Das ist wahr", sprach er bei sich, "der schlimme Fuchs hat dir manchen guten Bissen verschafft, doch was, ich werde mir schon auch ohne ihn helfen, habe ich doch die Schliche und Mittelchen ihm abgelernt!"

Da sah er zwei Bauern auf einem Wagen, die rührten Säcke in die Mühle. "Ha!" dachte er, "das sind Fische, du willst es jetzt gleich so machen wie der Fuchs!" Er lief auf einem Seitenweg dem Wagen voran und legte sich wie tot an die Landstraße. Als der Wagen heranfuhr, sahen die Bauern den Wolf, und sie schnallten sofort ihre Hosenriemen fester und sprangen vom Wagen ab. Einer aber war gerade derjenige, der vom Fuchs geprellt worden, der winkte dem andern mit den Augen und dem Kopf und zeigte mit den Armen, er solle die Axt nehmen; er selbst nahm sich eine Wagenleiste. Sie traten leise hinzu: als sie nahe waren, führten sie zuerst einige gelinde Schläge. "Denn ist er tot", dachten sie, "können wir den Pelz unversehrt haben." Der Wolf ließ anfangs nichts merken und meinte. "Die wollen gewiß nur versuchen, ob du wirklich tot bist!" Als aber der eine sah, wie der Wolf mit den Augen zwinkerte und Atem von sich ließ, erhob er die Axt und versetzte ihm einen Schlag auf das Haupt, daß gleich das Blut hervorströmte; jetzt fühlte der Wolf, das sei kein Spaß, sprang heulend auf und rannte wie besessen davon.

Josef Haltrich (1822 - 1886)

Mittwoch, 17. Juni 2015

Auslegung der Fabel von Phaethon, von den Heliaden, seinen Schwestern, und von dem Cygnus

(2)

Ich gestehe es, daß es schwer ist, den wahren Ursprung dieser Erdichtung zu finden; aber die Anlage dazu ist darum nicht weniger historisch; und es ist hier von sehr wirklichen Personen die Rede, deren Geschlechtsregister […] das Alterthum auf uns gebracht hat. Der gemeinen Meinung zu Folge, war Phaethon ein Sohn der Sonne und der Klymene; es sey nun, daß man unter der Sonne den Ägyptischen König Horus andeuten wollen; denn aus diesem Lande scheint, wie wir im folgenden sagen werden, diese Geschichte gekommen zu seyn; oder daß man eine andere von den Personen damit gemeint, welche für dieses Gestirn genommen worden. Einige Alten geben ihm die Nymphe Rhode, die Tochter Neptuns und der Amphitrite, zur Mutter, und Hesiodus […] sagt, daß er ein Sohn des Cephalus und der Aurora gewesen. Diese Stammtafel nimmt Apollodor […] an, und Eusebius, der darin den Julius Afrikanus zum Vorgänger gehabt, hat sich dieser Meinung bedient, die Zeit, wenn Cekrops gelebt, daraus zu bestimmen. Diesem Schriftsteller zur Folge war die Tochter dieses ersten Königs zu Athen, Nahmens Herse, die Mutter des Cephalus, welcher durch die Aurora entführt wurde; das heißt, welcher Griechenland verließ, um sich gegen Morgen niederzulassen. Cephalus hatte einen Sohn, Nahmens Tithon, der den Phaethon erzeugte. Nach dieser Stammtafel erkannte Phaethon den Cekrops für seinen Urältervater; und man kann demnach annehmen, daß er hundert und funfzig Jahre nach diesem ersten Könige zu Athen gelebt, welcher 1582 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung regierte, und fast 400 Jahre vor dem Trojanischen Kriege, wie man solches aus dem Dionys von Halikarnaß, und aus dem Censorin […] beweisen kann.

Anton Baniers
Erläuterungen der Götterlehre und Fabeln
aus der Geschichte
Aus dem Französischen übersetzt von
Johann Adolf Schlegel
und mit Anmerkungen begleitet von
Johann Matthias Schroeckh
Wien, 1791

Dienstag, 16. Juni 2015

Auslegung der Fabel von Phaethon, von den Heliaden, seinen Schwestern, und von dem Cygnus

(1)

Was wir jetzt von der Sonne gesagt haben, das führt uns auf die Fabel vom Phaeton. Diese Fabel, welche Ovidius […] umständlich beschreibt, ist kürzlich folgenden Inhalts. Als Phaethon einen Streit mit dem Epaphus, dem Sohne Jupiters und der Io, hatte, warf ihm dieser vor, daß er kein Sohn der Sonne oder des Phöbus sey, wie er sich rühme, sondern daß seine Mutter, Klymene solches nur ausgesprengt habe, um ihre Schwachheit zu verbergen, zu der sie sich von irgend einem Liebhaber verleiten lassen. Den Phaethon verdroß dieser Vorwurf, und er beklagte sich gegen seine Mutter darüber. Diese befahl ihm, daß er in den Palast des Phöbus gehen, und ihn bitten sollte, daß er ihm, zum beweise seiner Abkunft von ihm, die Führung seines Wagens auf einen Tag überlassen möchte. Phaethon kam dem Befehle seiner Mutter nach, und nachdem er seinem Vater die Ursache seines Besuchs eröffnet, beschwor er ihn, daß er ihm eine Gnade erweisen möchte, ohne diese aber zu bestimmen. Phöbus, oder die Sonne, ließ sich das nicht einfallen, daß ein so junger Mensch ihn um eine Sache bitten könnte, die seine Kräfte so sehr übersteige, als die Führung seines Wagens; er beschwor es ihm bey dem Styx, daß er ihm nichts abschlagen wolle, und Phaethon bath ihn um Erlaubniß, die Welt zu erleuchten. Phöbus hatte sich durch einen unwiderruflichen Eid zu Gewährung seiner Bitte anheischig gemacht; nachdem er nun alles Mögliche angewendet, seinen Sohn von einer so schweren und so gefährlichen Unternehmung abzubringen, gewährte er ihn endlich seiner Bitte. Der junge Wagehals besteigt den wagen der Sonne; aber die Pferde fühlten, daß die Hand ihres Herrn sie nicht lenkte, und wichen von der gewöhnlichen Straße aus, indem sie bald zu hoch stiegen, und den Himmel mit einer unvermeidlichen Verbrennung bedrohten, bald tief herunter kamen, und die Brunnenquellen und Flüsse austrockneten. Die Erde, welche dadurch in Schrecken gesetzt wurde, wendete sich an den Jupiter, und flehte ihn um Hülfe an. Der Gott wurde durch die gerechten Klagen dieser Göttinn gerührt, und schlug den jungen Phaethon mit einem Donnerkeile herab, daß er in den Fluß Eridanuns hinab stürzte. Die Heliaden, seine Schwerstern, überließen sich der grausamsten Verzweiflung. Cygnus, sein Bruder, starb vor Schmerz, und die Götter verwandelten ihn in einen Schwan.

Denen, welche die Fabeln nur für Behältnisse ansehen, in denen die Alten die Sätze der Sittenlehre und Naturkunde aufbewahrt, kostet es nicht viel Mühe, die gegenwärtige zu erklären. Sie sagen, sie sey das Sinnbild eines Verwegenen, welcher sich einer Unternehmung erkühnt, die seine Kräfte übersteigt. Aber bedurfte es so vieler Zurüstungen, uns eine so alltägliche Sittenlehre vorzutragen?

Anton Baniers
Erläuterungen der Götterlehre und Fabeln
aus der Geschichte
Aus dem Französischen übersetzt von
Johann Adolf Schlegel
und mit Anmerkungen begleitet von
Johann Matthias Schroeckh
Wien, 1791

Montag, 15. Juni 2015

Der Indianer

Die IV. Fabel

Ein Indianer war zu großem Reichthum kommen,
Und daher hatt ihn auch der Hochmuth eingenommen.
Er wünschte Stadt- und Land- und Weltbekannt zu seyn.
Mit diesem Kummer schlief er oft sehr mühsam ein;
Er pflegt auch manche Nacht zu wachen,
Und hatte stets dabey den Ruf zum Augenmerk.
Er wollte durch ein großes Werk
Sich einen großen Namen machen.
Inmittelst kam die Nachricht an,
Daß der Monarch von Indostan,
Der große Mogul, sich hieher erheben wollte,
Und daß man darum auch die Wege bessern sollte.
Der Ruhmbegierige fand hier Gelegenheit,
Den länstgehegten Wunsch im Werk erfüllt zu schauen.
Er ließ in der Geschwindigkeit
Gleich eine große Brücke bauen;
Sechs hundert Ellen lang und sieben Ellen breit,
Von einem Berge auf den andern.
Warum denn? War etwa der Strom zu schnell, zu tief,
Der zwischen beyden Bergen lief?
Und mußte dieser Bau vielleicht aus Noth geschehn,
Um trocken drüber hin zu wandern?
O nein! Kein Wasser war zu hören und zu sehn.
Drum wußt auch niemand sich hierinnen
Des Mannes Endzweck auszusinnen.
Daher entstund von ihm der allgemeine Wahn:
Er wäre nicht mehr bey Verstande.
Inzwischen kam sein Herr der große Mogul, an;
Der sprach: Was soll denn hier die Brück auf trocknem Lande?
Welch Bauherr hat sein Geld so närrisch angelegt?
Man sagte: Der und der. Der Kaiser trug Verlangen,
Aus dessen Munde selbst die Nachricht zu empfangen,
Was ihn zu diesem Bau bewegt.
Man rief. Er kam und fiel dem Mogul zu den Füssen.
Der Kaiser, voller Neubegier,
Begehrte nun von ihm zu wissen,
Was er doch immermehr mit dieser Brücke hier,
Auf trocknem Lande, haben wollt.e
Der Bauherr neigte sich, und sagte keck und frey,
Daß weiter nichts, als dieß, sein Zweck gewesen sey,
Daß Ihro Majestät nur nach ihm fragen sollte.

* * *

Wir würden in der Welt manch großes Werk entbehren,
Wenn in Europa nicht auch Indianer wären,
Die durch den größten Bau nichts anders haben wollen,
Als daß die Leute nur nach ihnen fragen sollen.

Daniel Stoppe
Neue Fabeln oder moralische Gedichte
Der Jugend zu einem nützlichen zeitvertreibe aufgesetzt
Band 2
1745

Donnerstag, 11. Juni 2015

Von den Seehunden

 
§ 654. Sonderbar ist es, daß der gemeine Mann in Island einen gewissen Abscheu, und doch zugleich eine Ehrerbietung für die Seehunde hat. Die Ursache hiezu ist die ungegründete Meinung, daß sie an Gestalt den Menschen mehr als anderen Thieren gleichen sollen, worin man durch ihren Vorwitz und ihre Klugheit gestärket wird. Hier erzählt man auch die Fabel, daß Pharao und sein Kriegsheer, die im rothen Meere ersoffen, in Seehunde sollen verwandelt geworden seyn. Eine andere Fabel oder Meinung, die eben so unrichtig ist, giebt den Seehunden ein Ansehen, daß es nämlich eine Art menschliches Geschlechtes, Seefolk genannt, sey, und eine menschliche Gestalt unter der äußerlichen und bekannten Seehundebildung haben solle, welche er zuweilen, wenn er am Ufer spaziren gehen wollte, ablegte. Man soll ihre Weibchen geheyrathet haben; auch hat man ihre Kühe, die sehr gute Milch geben, so wie die aschgrauen Kühe, die von diesen entstehen, gefangen und gemerkt. Die alten dänischen Riesenlieder (Klompe-Viser) enthalten eins oder andres, das diesen und dergleichen Fabeln ähnlich ist. Es ist unbeschreiblich, wie viel von ihnen zum Zeitvertreib erdichtet und erzehlt und von Einfältigen geglaubt worden ist. Die Gestalt dieser Thiere betreffend, gleichen sie vielmehr Hunden, als Menschen, desfalls sie auch bey den neuesten Naturkündigern, bey jenen ihrer Stelle, und daher den Hundenamen erhalten haben.

Des Vice-Lavmands Eggert Olaffens
und des Landphysici Biarne Povelsens
Reise durch Island
Aus dem Dänischen übersetzt
Kopenhagen und Leipzig, 1774

Mittwoch, 10. Juni 2015

Katze und Mäuse


Einstmals kam eine Katze, die ein gelb und rotes Kleid angezogen hatte, in die Nähe der Mäuse. Als die Mäuse sie erblickten, flohen sie erschrocken. Die Katze sagte: »Flieht nicht! Ich habe vor Buddha ein Gelübde abgelegt und thue deshalb keinem Geschöpf etwas zuleide«. Die Mäuse aber sagten: »Frau Katze, höre. Wenn dein Körper, indem du das gelb und rote Kleid anzogst, ein Gelübde genommen hat, hat dein Gemüt auch ein Gelübde genommen?« Die Katze sprach: »Meine Brüder, hört mich! Alle andern Dinge werden sich finden, mein Gemüt ist aufrichtig und rein. Die Mäuse glaubten es und machten die Katze zu ihrem Fürsten. Als sie aber zusammen waren, frass die Katze, sich listig verbergend, täglich mehrere hundert Mäuse. Die Mäuse wunderten sich und fanden, als sie nachzählten, das 800.000 Mäuse weg waren. Sie erkannten nun, dass die Katze sie gefressen hatte und sprachen »Jeder schlechtgesinnte Mensch muss so . . . . . .  werden«. So sprechend flohen sie. Das war die Macht der List.

Die Fabel ist auch in der mohammedanischen Welt verbreitet; man vergleiche die folgende Version:

Eine alte Katze war neben dem Feuer im Hause, auf dem Kopfe einen Turban setzend; diese Katze rief zu den Mäusen: ich habe viele Leute von euch getötet, ich habe Reue empfunden, ich habe Busse gethan, ich begebe mich zur Kaaba; kommet, um mir zu verzeihen und Frieden zu machen, sprach die Katze. Alle Mäuse kamen zu dieser Katze; eine grosse Maus blieb auf dem Hofe, ohne ins Innere des Hauses zugehen. Komm auch du, sprach die Katze zu dieser Maus; diese Maus sprach: bei Gott, das aussehen dieser Katze ist dasselbe, der Schnauzbart ist derselbe, die Ohren sind dieselben, der schwanz ist derselbe, die Art ist dieselbe; wegen des Turbans hat sie ihre Sitten nicht aufgegeben,m ich kann nicht hineinkommen. Also sprechend lief die grosse Maus davon; nahe kamen alle Mäuse und die Katze tötete und frass jene Mäuse und die Katze wurde satt.


aus: Fünf indische Fabeln
Aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz
Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin
mitgeteilt von B. Laufer
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)

Dienstag, 9. Juni 2015

Der Elefant und die Mäuse



Als vor alten Zeiten ein Elefant das Wasser des Meeres zu trinken ging, begegnete er einer Maus, die zu ihm sagte: »Onkel, du bist von Natur weise, ich bin von Natur listig; wer von uns beiden ist der ältere Bruder?« Der Elefant erwiderte zornig: »Ziemt es sich, dass du Knirps älterer Bruder sein willst? Ich zerstöre mit meinem Stosszahn den Berg Sumeru; wenn ich mit dem Fuss auftrete, töte ich zehntausend Mäuse«.

Als er im Begriff war, auf sie zu treten, floh die Maus erschrocken und sann auf eine List. Sie versammelte viele Mäuse und sprach: »Ein Elefant will uns alle töten. Wenn wir die Erde aus seinem Weg heimlich aushöhlen und ihn u Falle bringen und besiegen, so wird dies gut für unsern Ruhm sein«.

Die andern billigten diesen Vorschlag, gruben die erde auf und warteten. Der Elefant kam, stolperte und fiel, und da er sich nicht wieder aufrichten konnte, sprang die erste Maus auf das Haupt des Elefanten und sprach: »Onkel Elefant, wer von uns beiden ist nun der ältere Bruder?« Der Elefant antwortete: »Da alle Mäuse meine Lehrer gewesen sind, so mögen sie die älteren Brüder sein. Wenn ihr mich aus diesem Unglück errettet, so werde ich, wo ich eure Löcher sehe, erschrocken fliehen«. Auf diese Rede versammelte die erste Maus 800.000 Mäuse; einige befehligten von dem Körper des Elefanten aus und zogen von oben, andere gruben die Erde tiefer aus und feuchteten sie an, so dass der Elefant allmählich sich erhob. Als nun der Boden geebnet und der Elefant aufgestanden war, lief er erschrocken davon. Die Mäuse lachten.

O König, dass die einen Finger langen Mäuse durch Behendigkeit und List den gierigen Elefanten besiegt haben, ist durch solche List geschehen.


aus: Fünf indische Fabeln
Aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz
Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin
mitgeteilt von B. Laufer
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)