Freitag, 31. Mai 2013

Der Hirsch und die Fliege

Jüngst lagerte sich eine Fliege
Auf eines Hirsch’s Geweih.
»Wenn ich zu lästig auf dir liege,« -
Sprach sie »so rede frei.«
»Ey, sieh doch!« rief der Hirsch, - »mein Liebchen,
Bist du auch in der Welt?«
so ist’s mit manchem Bübchen,
Das sich für wichtig hält.


Wilhelm Corrodi
Fabeln und Bilder
Zürich 1876

Donnerstag, 30. Mai 2013

Der Fuchs und die Vogeljungen auf dem Baum


In Benfeys Pantschatantra … wird eine Fabel angeführt, die man im Mittelalter in lateinischer, arabischer, hebräischer, spanischer und deutscher Sprache las. Sie steht in dem bei Johann Capua hinzugefügten letzten (17.) Kapitel und hat folgenden Inhalt:

Der Fuchs weiß eine Taube, die auf einem Baume sitzt, so in Schrecken zu setzen, daß sie ihm, um ihr Leben zu retten, ihre Jungen herabwirft. Als der Fuchs weg ist, kommt der Spatz zu ihr und sagt: sie hätte antworten sollen, er solle sein möglichstes tun, und wenn er auf den Baum klettere, so würde sie mit ihnen auf einen andern Baum fliegen. Als der Fuchs wiederkommt, gibt sie ihm diese Antwort. Der Fuchs erwidert: Ich will deine Jungen schonen, wenn du mir sagst, wer dir dies geraten. Sie sagt: Der Sperling. Darauf geht der Fuchs zu diesem und fragt ihn: Wenn der Wind dich trifft, wohin legst du dann deinen Kopf? Der Spatz antwortet: Unter die linke Seite. Darauf fragt der Fuchs: Wenn er dich vorn trifft, wohin dann? Der Sperling: An mein Hinterteil. Der Fuchs: Wenn er dich aber von allen Seiten trifft, wohin dann: Unter meine Flügel. Darauf fragt der Fuchs: Wieso er das könne? Er könne es nicht glauben; wenn er es aber könne, so habe er seinesgleichen noch nicht gesehen. Der Sperling mach te es ihm nun vor. Da packte ihn der Fuchs und sagt: »Du konntest der Taube raten, aber nicht dir selbst!« und frißt ihn auf.

Diese Fabel ist literarisch interessant, da sie Hans Sachs in einem Meisterlied (Götze Bd. 5, Nr. 630) bearbeitete und eine Parallele dazu im Reineke Fuchs steht, wo der Fuchs den Hahn beredet mit geschlossenen Augen zu singen und ihn so fangt; doch wird er hier später befreit.

Interessant ist auch die Volksüberlieferung, die eine Anzahl nahe verwandter Sagen kennt.

Dähnhardt: Natursagen

Mittwoch, 29. Mai 2013

Monika Detering: Nebengleis

»Sie hockten wie Krähen in ihrem Kopf und gaben keinen Laut von sich. Gedanken hatten alle Worte gefressen und waren satt.«

So beginnt »Absturz in Himalaya«, ein Text aus dem Buch Nebengleis, das Kurzprosa von Monika Detering enthält. Es gehört zu den Büchern, die ich öfter aus dem Regal nehme und darin lese. Manche Texte immer wieder. Sämtliche Kurzprosa in diesem Buch, Texte von einer bis sechs Seiten, sind kleine Textgemälde, die man sich immer wieder anschauen, anlesen, durchlesen kann. Man könnte auch ganz trocken sagen, dass dieses Buch einen Mehrwert hat, weil man es öfters liest.


Montag, 27. Mai 2013

Der alte Hahn


Ein Hahn spielte sich ständig vor seinen Hühnern auf, wie schön er doch sei, was für einen prächtigen Kamm er hätte und wie viele er nacheinander auf der Stange beglücken könne. Die Hühner mochten das schon lange nicht mehr hören. Als die Bäuerin auf den Hühnerhof kam und suchend um sich sah, wussten die Hennen sofort, worum es ging: Sie suchte eine von ihnen für die Suppe. Geistesgegenwärtig liefen alle auf den jungen Hahn zu, der abseits in der Ecke stand, weil er vom alten Hahn immer weg gehackt wurde. »So ist das«, sagte sich die Bäuerin, »der alte Gockel schafft es nicht mehr. Ja, ja, das kenne ich. Na, für die Suppe wird er noch taugen.« Sie griff sich den Hahn, drehte ihm den Hals um und verschwand. »Das hat er jetzt davon«, sagte die weiseste der Hennen. »Erst schwillt ihm der Kamm und dann ist er nur noch für die Suppe gut.«

Horst-Dieter Radke

Donnerstag, 23. Mai 2013

Das Rhinozeros und die Gazelle

Das furchtbare Rhinozeros erlaubte manchmal einer lustigen Gazelle allerley Scherz und Schöckerey. Nur selten, wenn sie etwa zu grob neckte, fieng es an zu murren; aber - doch murrte der Behemot.

Die Gazelle faßte daraus kein Arges, und fuhrt täglich in ihrem Muthwillen fort. Da sprach das klügere Känguru: »Mich soll doch Wunder nehmen, ob unvorsichtiger Spaß nicht sehr ernstlich enden wird?«


Der Erfolg bestättigte diesen Argwohn: denn wenige Tage darauf fand man die Gazelle durchbohrt.


Karl Friedrich Kretschmann
aus: Fabeln, Allegorien und neueste Gedichte
8. Auflage, Leipzig, 1799

Donnerstag, 16. Mai 2013

Der Esel, der Affe und der Maulwurf

Ein betrübter Esel heulte,
Weil des Schicksals karge Hand
Ihm nicht Hörner zugewandt,
Die sie doch dem Stier ertheilte;
Und der Affe fiel ihm bey,
Daß der Himmel grausam sey,
Weil er ihm den Schwanz versagte.
Als nun jeder mürrisch klagte,
Sprach der Maulwurf: Ich bin blind;
Daß man sich mit mir vergleiche,
Wenn des Schicksals Zorn und Streiche
Andern unerträglich sind!


Hagedorn
Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen

Mittwoch, 15. Mai 2013

Die Gänse und der Hahn



Die Gänse:
Wir haben einst zu unsrer ew’gen Ehre
Durch unsre Wachsamkeit
Roms Kapitol vom Untergang’ befreit.

Der Hahn:
Ei! was ich hör!
Habt ihr denn auch die Stadt beschützet?

Die Gänse:
Nein.

Der Hahn:
Nicht? – Nun so haltet ja mit eurem Prahlen ein.



Dialogische Fabeln
Johann Gottlieb Willamov
(1736 − 1777)
Berlin, 1791

Dienstag, 14. Mai 2013

Aar und Fuchs

»Ich dächt', Herr Fuchs, wir wären Beide,«
Sprach König Aar, »gemacht zur Nachbarschaft.
Er hat viel List, und ich viel Kraft!
Sieht Er, ich wohne
Da in der Krone,
Und Er hienieden
Im Loch in Frieden,
Und geht Er aus,
Vertrau Er mir nur
Auf meine Königstreu (und schwöret Königsschwur)
Sein kleines Haus!«

Glück zu, Herr Fuchs, zu hoher Nachbarschaft!
Er hat viel List, und Der viel Kraft.
Vertrau' er nur
Dem Schwur!
Der Fuchs ist nicht zu Haus;
Der König Aar hat keinen Schmaus.
»Wir sind von Gottes Gnaden
Zu Gast geladen
In Nachbar Fuchses Haus
Auf junge Füchselein
Und speisen ihm in Gnaden
Das Nest rein.«

Der Vater kommt. »Ach nein!
Das kann nicht sein!
Sein hoher Schwur! – Und doch,
Da frißt er noch!
Da liegt noch ihr Gebein!
O Jupiter! soll's ungerochen sein?«
Verwaister, harre noch!
Und nun erwach und sieh!
Da fährt er früh
Schon zum Altar
Des Donnergottes selbst, raubt Flammen
Und Fraß zusammen
Und bläht sich: »König Aar!«
Da weht
Ein Sturmwind hinter ihm. Sieh, Aar,
Dein Nest in Flammen!
Sieh Deine Brut
Versenkt, herabgeweht!
Es fäht
Sie Fuchses Rachen auf und kühlet seine Gluth
In junger Adler Blut.

Die Fabel, grausam, falsch und schlecht
Und sonder Zweifel übertrieben,
Ich fand sie alter Hand im neuen Buch geschrieben,
Das hieß das Land- und Kirchenrecht!
Das Buch war schön gedruckt,
Geschrieben war sie schlecht.


Johann Gottfried Herder

Sonntag, 12. Mai 2013

Der Räuber und der Wolf

Ein Wolf, ein grauses Scheusal der Natur,
Das Schrecken aller Schäfer auf der Flur,
Hielt, hingestreckt auf grüne Matte,
Ein Lamm, das er zerissen hatte,
Und, ungerührt von herben Klagen
Der Mutter, er davongetragen,
In seiner Klau und fraß. Ein Räuber sah
Das blutge Paar. Raubgierig schrie er, ha!
Schmeckts, guter Freund? – Mit seinem Schwerte
Bohrt er den Wolfen hin zur Erde.

Da stöhnt der matt: Du bist so bös wie ich,
Und doch, du Brudermörder, tötest mich!
Der nimmt das Lamm. Mein Bruder, höre,
Spricht er, zu spät nun diese Lehre.
Kein arger Böswicht ist des andern Freund,
Und selbst, Freund, merke dirs, sein ärgster Feind.

Den 16ten November 1805
Franz Grillparzer