Donnerstag, 4. April 2013

Eine Schneemannfabel


Auf der Treppenbrüstung vor einem prächtigen Haus stand ein kleiner Schneemann. Er war aus Kunststoff gefertigt und so milchig weiß wie ein gefrorener See im Winter. Bloß sein Hut, der war schwarz, und seine Augen, die Nase und der Mund und auch die zwei Knöpfe auf seinem Bauch. Man hätte glauben können, er bewache die Tür, aber er stand bloß da, um lieb zu sein. Und so sagten
auf der Straße die Menschen beim Vorübergehen: "Ah", und, "oh", und, "wie ist er doch entzückend!"
Das machte den kleinen Mann recht selbstgefällig, und je öfter er die wohlwollenden Worte vernahm, umso tiefer legte er seinen Kopf zurück in den Nacken, täglich ein winziges Stück mehr, bis eines Tages seine Nase fast kerzengerade in die Höhe ragte.

Da flog ein Spatz vorüber, er war von langer Reise zerzaust und müde. Dem Himmel dankend setzte er sich auf die Nase. Das sah so drollig aus, dass all die Leute lachten. Der kleine Schneemann aber
schämte sich, was für ein Gespött er auf einmal war. So rückte er seinen Kopf wieder gerade und bald neigte er ihn gar vornüber. Dem Spatz behagte das überhaupt nicht, und ehe er das Gleichgewicht verlor, suchte er schleunigst das Weite. "Ah", und, "oh", und, "wie schön er ist!", sagten nun wiederum die Leute. Aber ob der kleine Schneemann etwas daraus gelernt hatte, das weiß man bis heute nicht.

Gernot Jennerwein

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