Freitag, 5. April 2013

Bis ans Ende der Welt und zurück

„Na, malst du wieder die Wolken an?“ Mama nahm Hazel in den Arm und Hazel schnaufte die ganzen tonnenschweren Sorgen eines fünfjährigen Mädchens in das warme, beschützende Fell ihrer Mutter.

Sie wusste genau, was alle dachten: Hazel, die dumme, kleine Hazel.

Sie konnte nichts. Sie war so nützlich wie eine leere Nussschale. Sie konnte nicht backen wie Urgroßmutter Hazel, von der sie ihren Namen hatte. Nicht ein so wunderbar gemütliches Heim herrichten wie Mama. Nicht einmal so schnell laufen wie ihr kleinerer Bruder Nut konnte sie. Sie konnte rein gar nichts.

Doch, etwas konnte sie gut. Sie konnte stundenlang zum Horizont starren und träumen. Bis irgendjemand vorbei kam und sie mit dem üblichen ‘Hazel malt die Wolken an‘ in die Realität zurückholte.

„Komm, es ist Zeit fürs Abendessen.“ Mama gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, zurück zum Haus.

Hazel blickte ihrer Mutter nach, sah, wie sie einen Moment vor der Eingangstür stehen blieb, ihr Brustkorb sich weitete und sie den Atem fest ausblies, bevor sie hinein ging.

Sie kannte diesen Blick ihrer Mutter, der nur für sie – für Hazel – bestimmt war, zu gut. Dann legte Mama den Kopf leicht schräg und sah direkt durch Hazels Augen hindurch in ihre Gedanken, so wie es nur Mütter können, und atmete tief ein und aus wie eben vor der Haustür. Sie wollte Mama nicht enttäuschen, sie wollte nicht anders sein. Aber immer, wenn sie zum Horizont blickte, spürte sie dieses unerklärliche Ziehen in ihrem Herzen.

Sie schlurfte langsam durch die hohen, harten Gräser nach Hause. Als sie näher kam sah sie, dass Besuch gekommen war. Großvater! Ihr Herz sprang wie verrückt in ihrem Hals herum und sie lief so schnell sie konnte, um sich in seine Arme zu stürzen. Leider waren ihre Füße nicht ganz so zielstrebig, wie ihre Wünsche und so landete sie mit mächtigem Gepolter direkt vor seinen Füßen.

Großvater hob sie lächelnd auf und barg sie an seiner Brust. Er roch salzig, windig und frisch. Er roch nach Freiheit. Sie wünschte sich so sehr, er würde für immer bei ihr bleiben. Er war der Einzige der sie verstand, der nicht lachte, wenn sie von ihren Träumen erzählte. Aber sie wusste, dass er wieder fort musste. Er hatte es ihr bei seinem letzten Besuch erklärt.

„Ich bin wie der Herbst“, hatte er mit seiner knarzenden Stimme gesagt. „Der Herbst kommt, wenn es Zeit ist. Er bringt dir bunte, duftende Träume mit. Doch er muss gehen, bevor der Winter da ist, denn er würde unter der Last des schweren Schnees ersticken. Aber du kannst dir immer sicher sein, dass er zurück kommt, wenn die Brombeeren reif sind und die Luft nach Salzwasser riecht. Und dann bringt er dir neue, noch schöner gefärbte Blätter mit, als im Jahr zuvor.“

Es wurde ein wundervoller Abend. Großmutter Hazel zauberte ihre berühmt-berüchtigten Heidelbeer-Frühlingszwiebel-Muffins. Und Großvater berichtete von seinen abenteuerlichen Reisen, ans Ende der Welt.

Er zog einen kleinen topasfarbenen Kiesel aus der Tasche und gab ihn seiner Enkelin in die Hand. Der Stein war schwerer als sie erwartet hatte und fast hätte sie ihn fallen gelassen. Sie sah ihren Großvater an, dann wieder den Stein. Auf den ersten Blick schien es ein ganz gewöhnlicher Stein zu sein. Auf der einen Seite glatt geschliffen, auf der anderen kantig und rau.

Sie zappelte ungeduldig auf ihrem Stuhl, begierig darauf zu hören, was er für eine Bedeutung hatte. Aber Großvater nahm erst mal einen tüchtigen Schluck Früchtebier, bevor er zu erzählen begann.

„Diesen kleinen Stein schenkte mir die Königin der Topasberge im letzten Sommer, zum Dank für meine Hilfe in einer recht verzwickten Angelegenheit.“ Großvater blinzelte Hazel verschwörerisch zu, als Mutter und Großmutter die Augen verdrehten, und fuhr unbeirrt fort. „Das Königreich befindet sich in einem großen Tal inmitten des Topasgebirges, durch das der Tunnel zum Ende der Welt führt.

Die Untertanen der Königin stritten seit vielen Jahren und das Reich war in zwei unerbittliche Lager gespalten. Beide beanspruchten den Wind für sich allein.

Die Quelle des Windes liegt nämlich genau auf der Grenze, die die Gebiete der streitenden Parteien trennt.

Also baute ich eine Windmühle, mit zwei unabhängigen Flügelrädern, in die Mitte des Königreiches, dorthin, wo der Wind entspringt. Von diesem Tag an konnte der Wind direkt an seiner Quelle gerecht geteilt werden und die alte Fehde war endlich beigelegt.“

Der Stein war hübsch, aber ein ziemlich mickriges Geschenk, für so viel Arbeit, dachte Hazel.

Großvater hatte ihre Gedanken erraten, denn er grinste schelmisch und nickte. „Das ist kein gewöhnlicher Stein, das ist ein Traumstein!“

Ein Traumstein. Hazel lächelte ihren Großvater an. „Schenkt er dir schöne Träume?“

„Er tut etwas noch viel besseres. Ich muss ihn am Abend unter mein Kopfkissen legen, dann lassen sich die guten Träume, für alle Zeit, auf der glatten Seite nieder. Die schlechten aber bleiben an den spitzen Kanten hängen und vertrocknen, so dass ich sie am nächsten Morgen einfach mit den Fingern wegschnippen kann.“

„Borgst du mir deinen Stein heute Nacht einmal?“, fragte Hazel, als Großvater sie später zu Bett brachte.

„Ich würde ihn dir schenken, aber er ist nutzlos für dich, denn er funktioniert nur bei seinem Besitzer.“ Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Und das bin ja nun mal ich.“

Hazel nickte, natürlich, das leuchtete ein. Und Großvater hatte bestimmt schon eine ganze Menge seiner Träume gesammelt. „Dann nimm mich mit, wenn du wieder ans Ende der Welt reist.“ Hazel kuschelte sich in seinen Arm. „Ich könnte der Königin doch auch behilflich sein und vielleicht schenkt sie mir einen eigenen Traumstein?!“

Großvater schüttelte den Kopf, dass seine grauen Haare nur so flogen. „Nein Hazel, das geht nicht. Noch nicht. Es ist nicht nur ein weiter Weg, es ist auch viel zu gefährlich, für so ein hübsches kleines Mädchen wie dich. Aber wenn du etwas älter bist, verspreche ich dir, wirst auch du deinen Traumstein finden.“

Pha! Kleines Mädchen. Hazel drehte sich um und tat, als sei sie sofort eingeschlafen. Sie wartete, bis ihr Großvater das Zimmer verlassen hatte und erst als sie sicher war, dass er sie nicht mehr hören konnte, weinte sie in ihr Kissen.

Bis im Haus endgültig Ruhe eingekehrt war, lag sie ganz still in ihrem Bett. Dann schlang sie sich ihren grünen Lieblingsschal um den Hals und machte sich auf Zehenspitzen auf den Weg. Auf den Weg ans Ende der Welt.

Sie lief durch die große, nachtfeuchte Wiese vor ihrem Haus, zum Anfang des Waldes und drehte sich noch einmal um. Aber die Dunkelheit hatte das Häuschen schon verschlungen. Da raschelte und trappelte es im Gras und ihr Herz begann zu rasen. Sie schluckte zweimal, laut hörbar, und dachte ihr Abenteuer sei zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hatte, als sie die vorwitzige Nase ihres Bruders erkannte.

„Nut!“, rief sie ihm erleichtert entgegen, besann sich aber schnell und gab ihrer Stimme einen vorwurfsvollen Ton. „Was machst du denn hier?“

Er ging überhaupt nicht auf die Frage ein, wie es seine Art war, und wollte wissen, warum sie denn draußen rumschleiche, mitten in der Nacht.

„Ich gehe zum Ende der Welt und du gehst sofort wieder nach Hause, in dein Bett!“

Nut stemmte seine Vorderpfoten trotzig in die Hüften, als über ihren Köpfen ein bedrohliches Rauschen und ein tiefes langgezogenes „Uhuu“ ertönte.

Hazel packte instinktiv die Hand ihres Bruders und rannte, so schnell sie ihre Pfoten trugen, ins schützende Unterholz. Die Beiden rannten und rannten. Änderten immer mal wieder abrupt die Richtung, sprangen über knorrige Wurzeln, quetschten sich durch enge Astlücken und rissen sich an spitzen Zweigen die Beine auf. Erst als sie beim besten Willen nicht mehr weiter konnten, blieben sie so still wie möglich unter einem Haufen morscher Äste liegen.

Hazels Herz klopfte wie Spechte in ihrer Brust und ihr Atem ging stoßweise. Sie hielt Nut fest im Arm und strich ihm über den Kopf, so wie Mama es tat, wenn er sich fürchtete oder sich beim Spielen verletzt hatte.

Es war ganz still. Kein Wind regte sich und die Tiere des Waldes schienen alle zu schlafen. Sie horchte angestrengt in die Dunkelheit. Nichts. Auch kein furchteinflößendes Uhu.

Als sie sich umblickte, erkannte sie die Umgebung nicht wieder. Sie hatten in ihrer Panik die Orientierung verloren und waren wohl in einen weit entfernten Teil des Waldes gelaufen, der ihr völlig unbekannt und auch unheimlich war.

Ihr Bruder weinte Tränen, dick wie Walnüsse, und schniefte in einem fort. Was sollte sie jetzt nur machen? Sie konnte nicht zurück, sie wusste ja gar nicht in welche Richtung sie gehen sollte. Weiter konnte sie auch nicht, Nut war noch viel zu klein, um mit ihr das Ende der Welt zu suchen. Er zitterte und heulte nach seiner Mama.

Da begann Hazel, von ihren Träumen zu erzählen. Von all den Dingen, die sie sah, wenn sie so scheinbar sinnlos zum Horizont starrte. Sie erzählte ihrem Bruder von wundersamen Wesen. Von Feen, von Elfen und Zwergen. Sie erzählte ihm von all den sonderbaren Sachen, die ihr Großvater auf seinen Reisen erlebt hatte und von all den Sachen, die sie selbst so gerne erlebt hätte. Und so verging die Zeit. Nut atmete ruhiger und auch sie – Hazel – beruhigte sich. Nach einer Weile stellte Nut ihr sogar Fragen, wollte wissen, warum die Fee fliegen konnte, oder wohin die Reise mit dem wundersamen Wolkenschiff des Elfenvolkes ging.

Als sie bemerkte, dass ihr Bruder eingeschlafen war, deckte sie ihn mit ihrem Schal zu und starrte mutlos neben sich auf den dunklen Waldboden. Dort lag, zwischen Zweigen und Blättern, ein kleiner rötlicher Kieselstein, mit einer glatten und einer rauen Seite. Sie nahm den Stein fest in ihre Hand. Er wurde ganz warm und diese Wärme breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Dann wiegte sie Nut noch eine Weile in ihren Armen, bis auch sie selbst erschöpft einschlief.

Großvater fand die Kinder am nächsten Morgen in dem Teil des Waldes, der nah an der Rückseite ihres Hauses lag. Sie waren im Kreis gerannt und wäre nicht gerade Neumond gewesen, hätten sie den kleinen Gemüsegarten ihrer Großmutter sehen können.

Mama und Großmutter waren in heller Aufregung und völlig aufgelöst, aber als sie sich überzeugt hatten, dass den Beiden nichts passiert war, beruhigten sie sich und ließen sich die Geschichte des nächtlichen Abenteuers erzählen.

Mama sah Hazel lange an, nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte. Aber sie schnaufte nicht, wie sie es sonst tat. Sie strich ihr über den Kopf und ein Ausdruck lag in ihren Augen, der Hazel glücklich machte. Glücklicher, als es das Ende der Welt je könnte. Mama war stolz auf sie.

Schon bald musste Großvater wieder fort. Aber Hazel fragte nicht noch einmal, ob er sie mitnehmen würde. Sie war dort wo sie sein wollte, bei Mama, Großmutter und Nut, selbst wenn der ihr manchmal ziemlich auf die Nerven fiel.

Hazel stand auch in Zukunft noch häufig mit weltentrücktem Blick vor dem Haus und starrte in die Ferne. Aber niemals wieder störte sie jemand dabei oder sah sie vorwurfsvoll an. Und oft rief ihr Bruder, oder eins der Nachbarkinder: „Hazel, bitte erzähl uns eine Geschichte!“ Denn Hazel konnte etwas ganz Besonderes, etwas das kein Anderer konnte. Hazel konnte die Wolken anmalen.

Und wenn sie manchmal Sehnsucht nach dem Großvater bekam, hielt sie ihren eigenen kleinen Traumstein fest in der Hand, bis ihr ganz warm wurde.



Keine Kommentare: