Donnerstag, 31. Mai 2012

Das gehorsame Mäuschen


»Was lauerst du?« red't aus der Ferne
Das Mäuschen eine Katze an.
»Wie funkeln deine Augen-Sterne,
Daß man es kaum ertragen kann.«

»Komm her, mein Schätzchen!« sprach die Katze,
»Ich spielte mit dir gar zu gern.
Sieh her, sieh meine sammtne Tatze,
Was stehst so blöde du von fern?«

»O, gerne möcht' ich zu dir gehen;
Doch, meine Mutter will es nicht.
Warum? kann ich nicht recht verstehen,
Denn freundlich ist ja dein Gesicht.

Doch warte nur, ich will sie fragen:
Ob sie es dieses Mal erlaubt,
Und dir alsdann die Antwort sagen,
Wenn es die Mutter nöthig glaubt.«

Gehorsam schützet vor Gefahren,
Von denen du noch nichts verstehst,
Und so mußt du dich sorgsam wahren,
Daß heimlich, ja, du nichts begehst.

Karoline Stahl
Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder
Nürnberg, 1821

Mittwoch, 30. Mai 2012

Eine fabelhafte Entdeckung


Ich wollte mir die Ausstellung von Otto Modersohn und seiner dritten Eherfrau Louise Modersohn-Breling ansehen. Wir leben schon so lange hier und hatten nie Zeit dafür gefunden. Da ich Kopfschmerzen hatte und nur so halbgar vor mich hingearbeitet habe, dachte ich mir gegen Mittag, besser ist, ich schau mir was schönes an. Also ins Auto gesprungen, nach Wertheim gefahren, ins Grafschaftsmuseum gegangen, brav die Modersohn-Ausstellung aufgesucht und die Bilder angeschaut. Nett. Teilweise auch schön. Aber beeindruckt war ich nicht. In die anderen Säle habe ich nur kurz reingeschaut. Die Kopfschmerzen waren weg und ich wollte wieder heim. Vorher kaufte ich mir noch ein Heft über die Ausstellungen des »Schlösschen im Hofgarten« (auch in Wertheim) und kam mit der Dame an der Kasse ins Gespräch. Aus einem Nebensatz entnahm ich, dass es auch noch Karikaturen gab.

»Die nehm ich noch mit«, sagte ich und ließ mir den Weg zeigen. Als ich die Federzeichnungen von den Futterer-Brüder sah, war ich hin und weg. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Teilweise sahen die wie Fotografien aus und man musste näher rangehen um sie als Federzeichnung zu identifizieren. Besonders ein Frauenkopf hatte es mir angetan. Bekannt wurden die Brüder Futterer durch ihre Karikaturen für die Satirezeitschrift Meggendorfer Blätter (1889 - 1928) Allerdings gibt das Wort »Karikatur« nicht wirklich wieder, was sie da abgeliefert haben. Mit schnell hingeworfenen Strichen etwas zu überzeichnen, was viele Karikaturisten machen, war die Sache August Futterers nicht. Deutliche gezeichnete Linien, Licht- und Schattenkontraste, exakte und nicht oberflächlich ausgeführte Schraffuren unterschiedlichster Art, mit der feinste Grauabstufungen erzeugt werden konnten - all dies ließ diese Karikaturen nahe an eine Fotografie herankommen. Seine Maxime »Was ist, das ist auch darstellbar« wird so ohne weitere Erläuterung deutlich.

Die Ölbilder Josef Futterers fand ich um Klassen besser als die von den Modersohns. Ein Freund des Malers dichtete mal zu seinem Geburtstag

Futterer Josef – München - Kunst
Maler, self-made-man, viel Dunst.
Pfälzer Bauern - warm und kalt
Je nach Ausdruck - jung und alt,
sind's für die die blauen Lappen
Kunstmäzene gern berappen.
Eigenart'ger Lichteffekt
ist's was Futterer bezweckt,
DER und große Farbverschwendung
Zeigen eine Kunstvollendung.
Erst fragt man sich, was soll's sein?
Endlich dämmert's: Ah wie fein
Ausgedrückt im flotten Sitl
Was der Künstler sagen will


Genau so - irgendwo im Impressionismus ist er angesiedelt, wenn er nicht gerade mit der Feder zugange war.

Ich wollte gar nicht wieder weg - aber das Museum machte schon um 16:30 Uhr zu. Also kaufte ich schnell noch ein Heft über die Futterers, was gut war, denn die Infos über die beiden sind dünn gesät. Selbst bei Wikipedia nur zwei kleine Einträge. In Würzburg soll in der Städtischen Galerie einiges von den Futterern vorhanden sein, da muss ich demnächst mal hin. Und wenn ich wieder mal in München bin, weiß ich, dass ich auch dort in den verschiedenen Ausstellungen (Lenbachhaus, Stadtmuseum, Städtische Galerie) nach Bildern der Futterers fahnden kann.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 29. Mai 2012

Leib und Seele


Einst entzweiten sich Leib und Seele; und zwar so heftig, daß diese ienen auf einige Zeit ganz verließ. Nach Verfluß eines ziemlichen Raums kam sie wieder, um zu sehn, wie er sich befinde; und fand ihn sehr feist und aufgedunsen.

»Siehst du? rief er ihr schon weitem entgegen: Du glaubtest, dein Außenbleiben würde mich verzehren; und es bekömmt mir sowohl, daß ich noch um eins so viel indessen zugenommen habe.«

Unglücklicher! versetzte sie: und du merkst nicht, daß diese Geschwulst ein sichrer Bote baldiger Vernichtung, diese Dicke nicht Gesundheit, sondern Wind und Spuren angehender Fäulniß sey? Nicht äusrer Umfang, sondern innre Kraft ist Vorzug und bürge des Lebens.

Fabeln nach Daniel Holzmann
weiland Bürger und Meistersänger zu Augspurg
herausgegeben von A.G. Meißner
Carlsruhe, bey Christian Gottlieb Schmieder, 1783

Donnerstag, 24. Mai 2012

Der Schütz und die Scheibe

Weichet auf die Seite, schrie ein Schütz, der eben im Feuer stund, weichet auf die Seite! – Eben habe ich im Sinne den Mittelpunkt zu durchbohren.

So schrie er etlichen Freunden zu, die unweit der Scheibe gerade auf den Mittelpunkt zustunden.

Die Scheibe kannte den Schützen, und widersetzte: Nein! meine Freunde! stehet, stehet, wo ihr seyd. nirgends seyd ihr von seiner Kugel sicherer als nahe mir, – nahe beym Mittelpunkte.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Samstag, 19. Mai 2012

Der Jäger, die Gazelle, der Eber und der Schakal


Einst wohnte in Kalyânakataka
Ein Jäger mit Namen Bhairava, *)
Der war, aus Verlangen nach Fleisch, mit dem Bogen
Ein Reh zu erlegen einst ausgezogen
Bis tief in die Mitte vom Vindhyawald,; **)
Dort tödtet er auch einen Rehbock bald,
Ergreift ihn und kehret damit heim –
Da stösst er stracks auf ein grimmig Schwein.
Drauf legt er das Reh auf die Erde fein
Und erlegt mit dem Bogen das wilde Schwein,
Dessen grauses Gebrüll wie der Donner gällt,
während die Hauer es ihm in die Weichen stellt‘,
Dass, wie ein geschlagner Baum er zur Erde fällt;
Denn:
Wasser, Feuer, Gift und Waffen, Hunger, Durst, der Berge Stürzen,
Jedes kann des Menschen Leben unverhofft auf ewig kürzen!
Da kam der Schakal Dhîrgarâvo, ***)
Nach Nahrung spähend, hier vorbei
Und fand die Todthen: Reh, Jäger, Eber, alle drei.
Da dacht‘ er bei sich selber: „Bravo!“
Da ist ja heut‘ ein gar reiches Mahl
Mir zugefallen. So geht’s manchmal:
Wie sich ungeahnte herbe Schläge über uns entfalten,
Also auch das Glück! Ich meine, ‚s ist des Schicksals seltsam Walten.
„Sei es drum! Die Leckerbissen
Sollen drei Monat wohl und mehr
Mir zur Nahrung dienen müssen.
Die erste Mahlzeit, die Hunger bannende –
Denn all‘ die schönen, süssen Stücke
Leg‘ ich für später mir zurücke –
Sei aber die Sehne, die Bogen spannende!“
Wie gesagt, so auch gethan.
Doch kaum nagt er die Sehne an,
Da wird vom logeschnellten Bogen
Der Dhîrgarâvo gerade ins Herz
Getroffen, und stirbt unter grossem Schmerz!
Darum sagte ich:
Sparen soll man wohl, doch spare man mit Maassen, wohl erwogen.
Sieh‘, der sparbefliss’ne Schakal starb getroffen von dem Bogen.

Ausgewählte Fabeln des Hitopade´sa
in metrischer Uebersetzung von August Boltz
Offenbach a.M., 1868

*) Der Schreckliche.
**) Die Vindhya-Gebirsgzüge trenne das Gangesland vom südlichen Indien.
***) Langschrei

Donnerstag, 17. Mai 2012

Noch etwas Statistik

Die beliebtesten Postings sind die folgenden:


Es freut mich sehr, dass meine »Kurze Geschichte der Fabel« auf dem vierten Platz steht. Vielleicht werde ich die in nächster Zeit einmal überarbeiten und erweitern.

HDR

Hunderttausend


Mehr als 100.000 Zugriffe auf diesen Fabel-Blog hat es bisher gegeben. In der Regel liegen die täglichen Zugriffe zwischen 100 und 200. Das ist nicht weltbewegend, aber für ein solch unspektakuläres Thema doch beachtlich. Das inzwischen auch die Schwelle von 1.000 Postings überschritten wurde, habe ich bereits im März berichtet

HDR

Donnerstag, 10. Mai 2012

Der Greif auf der Brücke


Gerade wollte er sich über das Geländer schwingen um sich in den Rhein zu stürzen, da hielt er inne. Ob es ein Luftzug war, oder ob er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen hatte – er wusste es nicht zu sagen. Aber als er den Kopf wandte, sah er dieses Wesen da sitzen, ruhig, mächtig, still, abwartend. Er hatte nie dergleichen gesehen. Ein kräftiger Leib wie von einem Löwen mit ebensolchen Pranken hinten und Klauen wie bei einem Geier vorne. Schwingen wie bei einem Adler und den Kopf eines Falken.
„Ein Greif“, sagte er. „Das ich so etwas noch einmal erleben darf“.
Das Wesen schwieg ihn vielsagend an.
„Oder ob ich schon hinüber bin, in die andere Welt? Bin ich schon nach dem Sprung?“ Er sah sich um, schaute vom Geländer in das dunkle Wasser. Nein, er stand eindeutig noch oben. Wieder sah er hin in der Erwartung, dass kein Greif mehr zu sehen war, sah hin in der Hoffnung, einer Sinnestäuschung unterlegen zu sein. Aber es half nicht, der Greif saß noch immer da und sah ihn mit seinen klugen Augen an.
„Freund, was hattest du vor?“
Hatte der Greif gesprochen? Oder klang die Frage nur in seinem Kopf.
„Wolltest du von der Brücke in den Tod springen? Einfach so?“
„Was soll ich auch sonst noch machen?“ antwortete er spontan und erbittert. Tränen traten ihm in die Augen. „Ist denn ein Weiterleben noch möglich?“
„Doch“, sagte der Greif. „Das ist immer möglich. Bis zum letzten Tag.“
„Wann ist der letzte Tag?“
„Der deines Todes.“
„Der jetzt gekommen ist.“
Wieder fasste er das Geländer. Aber er konnte nicht springen, konnte nicht hinüber. Er versuchte zu wollen. Aber auch das ging nicht mehr.
„Es liegt nicht in deiner Hand, zu bestimmen, wann der Tod gekommen ist.“
„Niemals?“
„Meistens nicht“, sagte der Greif.
„Also manchmal doch.“
„Aber nicht für dich.“
„Die Welt ist ungerecht“, sagte er, die Hand noch am Geländer. Aber er wusste schon, dass er nicht mehr springen würde.
„Und was nun? Man sagt doch, dass der Greif selbst den Basilisken vertreiben kann. Kannst du da nicht die paar Steuerfahnder, Bankrevisoren und Gläubiger für mich vertreiben? In den Wind blasen, mit den Krallen zerfetzen. Aus dem Weg räumen?“
„Warum sollte ich das tun?“ fragte der Greif. „Tun sie etwas unrechtes?“
Er schwieg.
„Du hast die Kraft, das auszuhalten“, sagte der Greif. „Du hast die Stärke, das wieder hinzubekommen.“
Er schüttelte den Kopf, aber er wusste, dass es stimmt.
Der Greif legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei aus, der schrill und laut jeden anderen in die Flucht getrieben hätte. Ihn machte er er aber zuversichtlich, gab ihm Kraft. Er musste lachen.
„Du hast recht“, sprach er. „Das sind Peanuts im Vergleich zu den Problemen, die meine Frau und meine Kinder hätten, spränge ich da jetzt hinab.“
Der Greif erhob sich in die Lüfte und flog mit kräftigen Flügelschlägen davon. Er sah ihm noch lange nach.
„Gehen wir’s an“, sagte er, drehte sich um und ging davon. Und fast war es, als lächelte er dabei.

Horst-Dieter Radke

Sonntag, 6. Mai 2012

Der Vogel Greif


Ohne Wolken steht der Himmel,
Ohne Welle ruht das Meer,
Doch viel schreckliches Gewimmel
Rührt sich um das Schifflein her.

Grimme Haye, Ungeheuer,
Leichen wittern sie am Bord,
Und die Raben wie die Geier
Suchen Atzung an dem Ort.

In dem Schiff‘ am Felsenstrande
Liegen bleich und starr und stumm
Fern von Rettung, fern vom Lande
All‘ die Männer rings herum.

Unter ausgeleerten Kisten
Sucht der Steuermann nach Brod,
Will das zähe Leben fristen
Um ein Stündlein herber Noth.

Heinrich wickelt ein die Leichen,
Senkt sie in des Meeres Grab,
Macht des heil’gen Kreuzes Zeichen,
Möchte stürzen mit hinab.

Seine Augen zugedrückte
Liegt er nun im schweren Traum;
Plötzlich fühlt er sich entrücket
Hoch empor zum Himmelsraum.

Flügelschläge hört er schallen,
Rauschen langen Federschweif,
Und er ruht in Eisenkrallen,
Und ihn trägt der Vogel Greif.

Himmelhohe Felsen ragen,
Heinrich Hält den Schwertknauf fest,
Hat den Greif sammt Brut erschlagen
Mitten drin in seinem Nest.

Ueber Berge, durch die Wüste
Zog der Held zur heil’gen Stadt,
Und er betete und büßte,
Wo der Herr geduldet hat.

aus dem Zyklus: Heinrich, der Löwe
von Julius Mosen
Gedichte, Leipzig, 1836

Mittwoch, 2. Mai 2012

Die zwei Brüder


Ein Vater hatte zwei Söhne; der ältere hieß Jörg, der jüngere Hans. Als sie groß und stark geworden, so sagte der Vater eines Tags zu ihnen: »Ziehet nun fort in die Fremde, und suchet euch selbst zu ernähren. Und bleibt einträchtig, und liebet einander; und wer mehr hat, der theile mit; und, wenn einer aus euch krank oder elend wird, so stehe ihm der andere bei, und helfe ihm.« Also schieden die beiden Brüder vom Vater, und gingen desselben Weges fort mit einander. Als sie aber an einen Scheideweg kamen, da sagte Jörg, der ein böses Herz hatte, zu seinem Bruder: »Gehe jeder von uns seines Weges, und sorge für sich. Und das sage ich dir: wenn wir uns wieder begegnen, du arm, und ich reich, so schlage ich dich todt, damit ich nicht für dich zu sorgen habe, wie der Vater gewollt. Und du magst mir deßgleichen thun, wenn ich arm geworden und du reich.« Ueber dieser Rede erschrack Hans sehr, der von guter Gemüthsart war. Doch tröstete er sich, und dachte: Gott wird's recht fügen; und nahm vom Bruder Jörg Abschied.

Es war ungefähr ein Jahr vergangen, als Hans eines Tags in einem fremden Lande die Straße zog ohne Brod und Geld und in schlechtem Anzuge; denn er hatte nirgendwo Arbeit gefunden. Da sah er eine Kutsche herbei kommen, worin ein vornehmer Herr saß in reichem Kleide und von gutem Aussehen. Den sprach er um einen Zehrpfenning an. Es war sein Bruder Jörg, den er aber nicht kannte. Dieser hatte durch Diebstahl und Wucher in kurzer Zeit großen Reichthum erworben, so daß er nun in einer eigenen Kutsche fahren, und ein Wohlleben führen konnte, während sein Bruder betteln mußte. Der Reiche erkannte sogleich in dem Bettler seinen Bruder. Zornig sprang er aus dem Wagen, packte ihn, und sprach: »Kennst du mich? Ich bin Jörg, dein Bruder. Du mußt nun sterben, wie wir's verabredet haben.« Hans in seines Herzens Angst bat, er möchte ihn doch beim Leben lassen. »Beim Leben will ich dich lassen, sagte Jörg; aber die Augen muß ich dir durchstechen, damit du mich nie mehr erkennest, und mir fortan zur Last fallest.« Das that er denn auch. Drauf schleppte er ihn zu einem Galgen, und band ihn dran fest. Da ließ er ihn, und fuhr sodann davon.

Der arme, geblendete Hans wußte aber nicht, an welchem schlechten Orte er sich befand. Er fühlte um sich, und merkte, daß er unter einem Holzbalken saß. Da meinte er, es wäre ein Kreuz, und sprach: »Dank dem Himmel, daß er mich wenigstens unter ein Kreuz gebunden habe; Gott ist bei mir, und von ihm wird mir Hülfe kommen.« Wie es nun anfing, Nacht zu werden, hörte er etwas über sich flattern. Das waren aber drei Krähen, die ließen sich auf dem Balken des Galgens nieder. Da fingen sie zu reden an, und die eine sagte: Woher kommst du, Schwester? Diese antwortete: »Ich komme aus Norden.« »Was bringst du Neues?« »Des Königs Sohn hat seine beiden Augen ausgefallen, und der König gäbe dem gern sein halbes Königreich, der helfen könnte. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich – sagte die andere – hier unter dem Galgen wächs't ein Gras; auf das fällt von Zeit zu Zeit ein Thau; und wer damit die Augen eines Blinden bestreicht, dem werden sie wieder sehend.« – Drauf geschah die Frage an die zweite: »Und woher kommst du, Schwester?« »Ich komme aus Süden.« »Was bringst du Neues mit?« »Ein reicher Edelmann hat in seinem Garten einen Baum, der trägt silberne Birnen; aber wenn sie anfangen, reif zu werden, so fallen sie ab, und werden zu Staub und Asche. Er gäbe gern die Hälfte davon in jedem Jahr dem, der wüßte, wie dem Uebel abzuhelfen sey. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich, sagte die dritte. Unter dem Baum liegt eine garstige Kröte; man darf sie nur heraus graben, und zu Asche verbrennen, und die Asche nach allen vier Winden zerstreuen.« – Nun wurde die dritte gefragt: »Woher kommst du, Schwester?« »Von Westen.« »Was bringst du Neues?« »In einem dichten Walde, zwischen vier Bergen, liegt ein gläserner Sarg; darin schläft eine Prinzessin schon viele Jahrhunderte; es liegt auf ihrer Zunge ein Schnitz von einem giftigen Apfel; und wer den heraus nehmen könnte, der würde sie wieder zum Leben bringen. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich, sagte die erste. Man müßte von dem Vogel Greif drei Federn holen, und mit diesen der Prinzessin den Mund streichen. Der Vogel Greif würde aber wohl für jede Feder eine silberne Birn verlangen.« – Wie die drei Krähen das gesprochen, hörte er es wieder flattern, und sie flogen da fort. Hans aber machte sich allmählich von seinen Banden los, und dann bückte er sich, und brach ein paar Gräslein ab, und bestrich damit seine Augen. Alsbald ward er wieder sehend, und Mond und Sterne leuchteten ihm wieder, und er dankte dafür Gott. Darauf sammelte er in einen Scherben von dem köstlichen Thau, so viel er zusammen bringen konnte, und ging fort, gerades Weges nach Norden, um den König aufzusuchen, dessen Sohn blind geworden.

Er war noch nicht gar viele Tage gegangen, als er einen Herold ausrufen hörte: Wer des Königs Sohn wieder das Gesicht gibt, der soll das halbe Königreich haben. Nun wußte er, daß er recht gegangen sey. Er ließ sich sogleich in des Königs Schloß führen, und meldete, daß er des Königs Sohn zu heilen gedenke. Das wurde mit Freuden vernommen. Er bestrich darauf dessen Augen mit dem Thau, und alsobald wurde jener sehend. Der König hielt sein Wort, und trat ihm sein halbes Königreich ab. Dieser wollte es aber nicht sogleich antreten, sondern verlangte, daß man es ihm aufbewahre, bis er wieder käme.

Drauf zog er weiter, und ging gerades Weges nach Osten. Da hörte er bald von dem reichen Edelmann, und von dem Baum, der silberne Birnen trug. Er meldete sich bei ihm, und sagte, was zu thun sey. Die Kröte wurde ausgegraben und verbrannt, und sodann ihre Asche nach allen vier Winden zerstreut. Drauf, wie eine reife Birn gepflückt wurde, blieb sie eitel Silber, und zerfiel nicht in Staub. Der Edelmann wollte alsogleich die Früchte mit ihm theilen; dieser aber las nur drei Birnen aus, die schönsten, und zog weiter, um den Vogel Greif aufzusuchen.

Da zeigte man ihn des Weges nach Osten; und wie er viele Tage gegangen war, so kam er vor zwei Berge, die gingen immer zusammen, und er sollte doch durch. Da rief er: Laßt mich durch! laßt mich durch! »Das wollen wir, wenn du den Vogel Greif bittest, daß wir wieder ruhig stehen dürfen.« Hans versprach es, und drauf ließen sie ihn ungehindert durch. – Als er wieder eine Weile gegangen war, kam er an einen großen See, und drüben lag des Vogels Greif sein Schloß. Da kam in einer Nußschale ein kleines, altes, häßliches Weib heran geschwommen. »Fahr mich über,« rief Hans. »Das will ich thun, sagte das Weib; aber fragen mußt du den Vogel Greif, wie lange ich hier noch überfahren soll.« Das versprach Hans zu thun, und stieg ein, und ließ sich hinüber fahren. Als er ins Schloß trat, war Vogel Greif eben nicht zu Haus; doch bald rauschte es von ferne her, wie ein Sturm, und der Greif nahete und verdeckte mit seinem breiten Gefieder die Sonne, daß es ganz dunkel wurde. Da ward es Hansen doch bange ums Herz, und er versteckte sich. Vogel Greif aber, als er sich aus der Luft niedergelassen, sagte: Ich riech, ich riech Menschenfleisch. Das wiederholte er öfter, und schnupperte umher. Da kroch Hans aus seinem Winkel hervor, und sprach: Mächtiger Vogel Greif! wenn ihr mir drei Bitten gewähren wollt, so will ich euch diese drei silbernen Birnen geben. Vogel Greif sagte: Ich gewähre sie dir; sag' an. Da sprach Hans: Für's erste, wie lang müssen die zwei Berge zusammen und auseinander gehen? – »Bis sie einen Menschen erdrücken.« – Fürs zweite: »wie lange muß die alte Hexe noch die Leute überfahren?« – »So lange sie lebt.« – Aber nun zum dritten, so bitte ich, daß ich euch drei Federn ausziehen darf aus dem Schweif. Der Greif sagte: »Du verlangst viel; doch will ich dir Wort halten. Wenn du aber bei eine Feder zweimal ansetzest, so fress' ich dich.« – Drauf zwängte sich Vogel Greif zwischen zwei Felsen ein, und Hans zog nun, was er ziehen konnte. Der Vogel Greif zermalmte vor Schmerz die Felsen, und soff einen ganzen See aus. Wie Hans die drei Federn hatte, bedankte er sich, und gab die drei Birnen her. Drauf ging er des Weges zurück, den er gekommen.

Als er wieder zu dem See kam, schwamm die Alte in ihrer Nußschale heran. Die rief ihm gleich zu: Sag an, wann darf ich aufhören, überzufahren? Hans sprach: Ich darf es dir erst sagen, wenn ich drüben bin. Als sie ihn nun ans Land gesetzt hatte, sagte er: Du mußt so lange fahren, als du lebst. Da erhob die Alte ein großes Geschrei; sie sprang aus ihrer Nußschale ins Wasser, wo sie so lange tobte, bis sie ertrank. Von ihrem Toben war aber die See so ausgetreten, daß Hans bis an den Hals im Wasser ging, und beinahe ertrunken wäre; und das dauerte fort, bis er an die Berge kam. Die fragten ihn sogleich: Sag an! wann dürfen wir still stehen? Hans sprach: Ich darf es euch erst sagen, wann ich durch bin. Als er durch war, sagte er: Ihr dürft nicht eher still stehen, als bis ihr einen Menschen erdrückt habt. Da ergrimmten die Berge; es tosete und wüthete in ihrem Innern, so daß sie in Stücke zersprangen, die weit umher flogen. Aber Hans duckte sich, und kam glücklich davon.

Nachher zog er gen Osten, und fand den Wald, und die drei Berge, und den gläsernen Sarg, und das Mädchen, das darin lag. Das war aber eines Königs Tochter, und die Geschichte hat sich also begeben: Ihre Mutter, die Königin, war viele Jahre kinderlos. Eines Tages saß sie traurig am offenen Fenster und nähete. Es war aber zur Winterszeit. Da fiel ihr eine Schneeflocke auf den Schoß, und auf die Schneeflocke fiel ein Blutstropfen; denn sie hatte sich in den Finger gestochen. Da seufzte sie gar innerlich: Ach hätte ich doch ein Mägdlein, so weiß wie Schnee und so roth, wie Blut! Nach einiger Zeit gebar sie auch ein Mädchen, so weiß wie Schnee, und so roth, wie Blut. Und das Mädchen wurde Schneeweißchen genannt, und wuchs, und wurde groß und schön und fromm, und sie war der Mutter einzige Freude. Aber ein böses, altes Weib mißgönnte der Königin ihr Glück; und sie gab eines Tags dem Schneeweißchen einen vergifteten Apfel, und als das Mädchen einen Schnitz davon in den Mund nahm, so fiel sie als todt hin, und erwachte nicht mehr. Und weil sie nun gar so schön war, und roth blieb, wie Blut, und weiß, wie Schnee, so thaten es die Eltern in einen gläsernen Sarg, und stellten den Sarg zwischen die drei Berge. Die Eltern starben, aber Schneeweißchen blieb unverändert. – Zu dem trat nun Hans, und, nachdem er den Deckel abgehoben, so strich er mit den mitgebrachten Federn des Mägdleins Mund. Der that sich auf, und alsobald fiel der Apfelschnitz heraus. Da that das Mägdlein die Augen auf, und, als erwachte sie aus einem langen, schönen Traum, sah sie den Jüngling, der vor ihr stand, mit ihren holdseligen Augen an. Der war, wie ihr leicht denken könnt, voller Freuden, und er nahm das Mägdlein gleich mit in sein Königreich, das er gut aufgehoben fand.

Als er nun Hochzeit machte, war der Hof voll von Armen. Die saßen in zwei Reihen, und Schneeweißchen vertheilte unter sie das Almosen. Der junge König ging aber hinten drein, und freute sich über sein schönes und frommes Weib. Da bemerkte er plötzlich unter den Armen und Siechen seinen Bruder Jörg, der gleichfalls die Hand ausstreckte nach einer milden Gabe. Als der junge König ihn sah, und so elend, da dachte er nicht an das Unrecht und an Rache, sondern er nahm ihn aufs Schloß, wo er ihn speis'te und tränkte; und er erzählte ihm alles, wie es ihm ergangen, von Anfang bis ans Ende. Und zuletzt sagte er: Jetzt bleib bei mir, daß ich dir wohl thun möge, wie es der Vater gewollt hat. Aber Jörgs böses Herz ließ das nicht zu, in welchem Neid und Zorn und Stolz war; und er sprach: Willst du mir nicht thun, gleichwie ich dir gethan, so laß mich ziehen; denn ich mag nicht bei dir bleiben. Also zog er vom Hofe, und er dachte bei sich: »Die Krähen werden mir so gut weissagen, wie diesem Hans; und, da ich klüger bin, als er, so werde ich nicht bloß ein halbes, sondern ein ganzes Königreich bekommen. Dann werde ich ihn bekriegen, und einfangen, und ihn wiederum blenden, und noch elender machen, als vor her.« Als er zu dem Galgen gekommen, da blies ihm der Neid ein, und rieth ihm: Raufe alles Gras aus, das da ist, damit dein Bruder nicht wieder das Gesicht bekommen kann, wenn du ihn blendest. Das that er denn auch, und er legte sich dann auf den Rücken, und erwartete so die Krähen. Bald kamen sie; und die erste sprach: Das letzte Mal muß uns ein Mensch behorcht, und unsere Geheimnisse verrathen haben. Drauf die andere: Seht! da unten liegt wiederum einer. Der dritte sagte: Hacken wir ihm die Augen aus. Und sogleich flogen sie herab, saßen ihm auf den Kopf, und hackten ihm die Augen aus, und hackten weiter im Gesicht, so lange, bis er ganz todt war. Da blieb er liegen unter dem Galgen. Wäre er nicht so neidisch gewesen, und so dumm, und hätte das Gras stehen lassen, so hätten ihn die Krähen nicht gesehen, und hätten ihm auch geweissagt.

Hans aber lebte als König lang und glücklich, und Schneeweißchen auch.

Ludwig Aurbacher: Ein Büchlein für die Jugend
Stuttgart/Tübingen/München 1834

Dienstag, 1. Mai 2012

Der Greif und der Eisvogel


Allein, als das Meer anschwoll, entriß derselbe die jungen Eisvögel.
Da sagte das Weibchen:
- Ich habe es ja gleich von vorne herein gesagt, daß es so kommen werde.
Das Männchen aber entgegnete:
- Ich werde mich zu rächen wissen an dem Herrn des Meeres.
Darauf ging er zu einer Truppe von Vögeln und sprach zu ihnen:
- Ihr seyd meine Verwandte und Freunde, so stehet mir nun bei!
Diese fragten:
- Was willst du, daß wir thun sollen?
Der Seevogel erwiederte:
- Gehet mit mit insgesamt zu den übrigen Vögeln, daß wir ihnen klagen was von dem Herrn des Meeres geschehen ist, und wir wollen zu ihnen sagen: ihr seyd Vögel wie wir, drum steht uns bei.
Jene Truppe von Vögeln entgegnete:
- Siehe! Der Greif ist unser Beherrscher und König, darum gehe mit uns zu demselben, daß wir ihn um seine Hülfe anrufen, ihm klagen was dir von dem Herrn des Meeres begegnet und ihn bitten, Rache an demselben uns zu verschaffen durch die Macht seines ganzen Reiches.
Hierauf begaben sie sich zu dem Greif mit dem Eisvogel und ließen ihren Hülferuf ertönen. Der Greif zeigte sich ihnen alsbald, wo sie ihm dann ihre Geschichte erzählten und ihn ersuchten, mit ihnen zum Kampf gegen den Herrn des Meeres auszuziehen, was derselbige ihnen gleich zusagte. Wie aber der Herr des Meeres erfuhr, dass der Greif mit dem gesamten Reich der Vögel ihn bekriegen wolle, da wagte er es nicht sich in Kampf einzulassen mit einem ihm überlegenen König, gab dem Eisvogel seine Jungen zurück und schloß mit ihm Frieden, worauf der Greif sich zurückzog.

aus: Calla und Dimna oder die Fabeln Bidpai’s
Aus dem Arabischen von Philipp Wolff
Doctor der Philosophie Privatdozenten der orientalischen Literatur an der königl. Universität zu Tübingen, Mitglied der asiatischen Gesellschaft von Paris,
Erstes Bändchen, Stuttgart 1837, S. 87 f.