Mittwoch, 29. Februar 2012

Erzählungen und Fabeln in Indochina

Die Indochinesen sind reich an Märchen und Erzählungen verschiedener Art, die sich theils in ihrer Literatur geschrieben finden, theils mündlich fortgepflanzt werden. Sie tragen vielfach das Gepräge eines indischen Ursprungs, oder lehnen sich an das Chinesische, andere sind aus dem Malayischen übersetzt, andere wieder aus dem Javanischen, indem sich die verschiedenartigsten Einflüsse auf der hinterindischen Halbinsel gekreuzt haben. Daneben her laufen die historischen Sagen der nationalen Traditionen, und dann findet sich noch ein unerschöpflicher Fabelschatz, der den heiligen Textbüchern entnommen ist, vorzüglich den 550 Vorexistenzen Buddha's, welche die kleineren heißen, im Gegensatz zu den zehn letzten oder großen Wuttu's der Xataka.

aus: Adolf Bastian
Erzählungen und Fabeln aus Hinterindien
In: Globus #, Juli 1866, S. 82

Montag, 27. Februar 2012

Über meinem Haupte fliegt ein Rabe

(Lithauisch)

Über meinem Haupte fliegt ein Rabe,
Trägt im Schnabel eine weiße Hand,
Golden glänzt daran ein Ringlein nieder.

„Lieber Rabe, komm zu mir, ich bitte,
Und berichte mir, woher du sie,
Diese Hand, genommen mit dem Goldring!“

Meiner Bitte folgt der schwarze Vogel,
Kommt herab und sitzet auf dem Ast,
Und berichtet mir die trübe Mähre:

„Aus dem Kriege komm’ ich, wo soeben
Eine mörderische Schlacht getobt,
Wo unzählige Leichen aufgehäufte.

Mitten unter tapferen Genossen
Liegt ein schöner, blonder Jüngling hier –
Blutig aus der Wunde fließt sein leben.

Dessen ist sie, diese Hand, die weiße;
Dein Geschenk wohl ist der goldne Ring;
Nimm zurück ihn und dein Lieb beweine!“

Amara George
(1835 − 1907)

Dienstag, 21. Februar 2012

Bambis Appetit



MMM 11: Bambis Appetit

„Papa“, fragt Bambi, „können wir nicht mal was anderes essen?“
„Was anderes?“ fragte Vater Hirsch erstaunt und hörte auf, die Knospen abzuweiden.
„Zum Beispiel Menschenfleisch.“
„Igitt! Wie kommst du denn auf so etwas.“
„Immer nur Gras, und Kräuter und Halme und Knospen. Das hängt mir doch schon zum Halse heraus. Da ist eine Brombeere ja schon eine Abwechslung - trotz der Stacheln.“
„Aber Menschenfleisch? Überhaupt Fleisch - wer isst denn so was?“
„Na der Fuchs zum Beispiel, oder Gevatter Uhu, oder …“
„Deine Mutter hat recht, du hast schlechten Umgang. Wir sollten besser auf dich aufpassen.“
„Jetzt hör aber mal auf. Ich glaube, du findest das Essen auch langweilig und du traust dich nur nicht was zu sagen, weil du Angst hast, dass deine Frauen dir was auf dein Geweih geben.“
„Das ist nicht wahr!“ brauste Vater Hirsch auf. „Hier bin immer noch ich der Hirsch in der Herde.“
„Wer’s glaubt. Du traust dich ja nichts.“
„Und überhaupt, Menschen haben Schonzeit.“
„Wie lange denn schon?“
„Weiß ich’s? Die darf man erst jagen, wenn die Schonzeit vorbei ist.“
„Das ist wieder so etwas, was alle behaupten und keiner überprüft. Ich glaube, die Schonzeit für die Menschen hat noch nie einer ausgerufen.“
„Aber es wäre unfair die zu brechen. Die Menschen halten ja auch die Schonzeiten bei uns ein, naja, die meisten jedenfalls.“
„Und die rufen sie auch selber aus. Warum rufst du jetzt nicht aus, dass die Schonzeit für die Menschen zu Ende ist? Schließlich bist du ja der Hirsch im Wald, wie du eben noch behauptet hast.“
„Meinst du?“ Vater Hirsch klang nachdenklich.
„Na klar“, fasste Bambi sofort nach. „Und dann nimmst du gleich einen auf die Hörner, da, am besten den dort drüben, den mit der grünen Jacke. Und dann machen wir uns ein lecker Essen.“
„Eigentlich hast du recht“, sagte der Hirsch und röhrte laute die Schonzeit zu Ende. Dann beugte er den Kopf und rannte auf den herannahenden Jäger los.

Horst-Dieter Radke
MMM = Moderne Mini Märchen

Montag, 20. Februar 2012

Medicinische Moden

Daß Jungfer Barbara so oft zur Beichte geht,
Ist weder Heuchelei, noch ängstliches Gewissen.
Sie spricht gern von sich selbst; und seht,
Hier ist der Platz, wo andre schweigen müssen.

Johann Friedrich August Kazner

Mittwoch, 15. Februar 2012

Die Giraffe

Das Thieß mit klafterhohem Fuß,
Sonst Giraff, das die Musen hassen,
Weil man den Namen stümmeln muß,
Um ihn in einen Vers zu passen. –

Dies Monstrum des Parnasses stand
Vor einem Wald, steif wie die Zeder:
So steht ein finstrer Doktorand
Auf seinem staubigten Katheder.

Ein Esel sah es, während er
Mit einem Fuchs auf einer Wiese
Mittagsruhe hielt, von vorneher
und rief: „Sieh, Bruder, welch eine Riese!“

„Laß uns ein Eckchen in den Wald
Auf jenem Steinpfade gehen,“
Versetzt der Fuchs, „so wirst du bald
Den Riesen auch von hinten sehen.“

Gesagt, getan. Das Wunderthier,
Das kurz vorher als Ries’ erschienen,
War itzt ein Zwerg. „Gibt’s Hexen hier?“
Schrie Langohr mit bestürzten Mienen.

„Verbanne, Nachbar, deinen Graus;
Um einen Mann für groß zu achten,
Mußt du zuvor,“ rief Reinhard aus,
„Von allen Seiten ihn betrachten.“


Gottlieb Konrad Pfeffel

Montag, 13. Februar 2012

Das Nashorn und das Dromedar

Ein Nashorn sprach zu einem Dromedar:
„Mein Freund! es ist doch sonderbar,
Wie ungerecht das Schicksal uns behandelt;
Vielleicht vermagst du es, mich aufzuklären,
Und bist so gut, mich deßhalb zu belehren.
Der mensch, – ein Thier, zum Herrscher ausersehen,
Das stolz und mächtig einherwandelt,
Liebt euch, – und Euresgleichen stehen
Bei ihm in hohem Rang;
Er pflegt euch, nährt euch mit seinem Brod,
Euch quälet nie des blassen Hungers Noth;
Man suchet stets euch zu vermehren,
Und hält euch allenthalben sehr in Ehren.
Ich weiß zwar wohl, daß ihr auf eurem Rücken
Des Menschen Bürden tragt,
Die oft gewaltig schwer euch drücken:
Doch diesen Dienst kann auch das Nashorn ihm erweisen,
Und deßhalb braucht er euch nicht allzusehr zu preisen;
Ja, wenn ihr redlich seyd, so sagt,
Ob nicht vielleicht der Vorrang uns gebührt?
Denn seh’t nur her, welch großes Horn uns ziert,
Und welch eStärke unser Panzer hat?
Sie würden ihm sehr nützlich seyn
Beim Kampfe in des Feindes Reih’n.
Doch hasset uns der Mensch, und that
Gar nichts für uns. Drum fliehen wir,
Wenn sich uns nähert dieses Thier!“ –

„Mein Freund!“ – erwiedert drauf der Dromedar –
„Die Sache ist mir wirklich sonnenklar:
Der Mensch verlanget Dienste nicht allein,
Man soll ihm auch hübsch unterthänig seyn:
Was uns den Vorzug giebt vor Euresgleichen,
Das ist die Kunst, das Knie zu beugen!“

Jean-Pierre Claris de Florian

Freitag, 3. Februar 2012

Eine Parabel über das Internet

Die Parabel über das Internet, die Nils Pooker "Märchen" nennt, ist schon etwas älter (2007) aber immer noch aktuell.

Mittwoch, 1. Februar 2012

Der Krieg der Tiere


Die Raubtiere hatten mit den Raubvögeln einen heftigen Streit, der dazu führte, dass der Löwe, der König der Vierfüßler, dem Adler, dem Beherrscher der Lüfte, den Krieg erklärte.
Boten mussten im ganzen Tierreich alle Streitkräfte zusammenrufen. Die frei lebenden Tiere folgten auch willig dem Aufgebot. Die Haustiere aber erklärten, dass sie sich dem Heerzug nicht anschließen könnten, weil sie nicht gegen ihre Kameraden, die Hühner, Gänse und Enten, kämpfen wollten, die sicher auf der Seite des Adlers stehen würden, wenn die Haustiere für den Löwen Partei ergreifen. Außerdem aber seien sie bisher von den Raubtieren stets verfolgt und verachtet worden, sodass sie gar keinen Grund sähen, sich für die egoistischen Interessen der Raubtiere einzusetzen.
Als dem Löwen dies hinterbracht wurde, hielt er im Kreise der Raubtiere eine große Rede und setzte auseinander, dass es sich bei dem bevorstehenden Kampf nicht um Raubtierinteressen handle. Es gehe vielmehr um die höchsten Tierheitsideale, ja, um Sein oder Nichtsein des ganzen Tierreichs. Und er schloss mit dem großmütigen Satz:
„Angesichts dieses schweren Ringens kenne ich keine Raubtiere und keine Haustiere mehr. Ich kenne nur noch Tiere!“
Das blieb nicht ohne Wirkung auf die Haustiere. Sie machten sich in ihrer Mehrzahl die Gedankengänge des Löwen zu Eigen und glaubten jetzt wirklich, dass es nicht um die selbstsüchtigen Interessen Einzelner gehe. Sie erklärten, ihre hohe Vierfüßlerkultur sei von der niedrigen Kultur der Raubvögel bedroht. Da müssten sie alles Trennende zurückstellen und wahr machen, was sie immer gesagt hatten: „In der Stunde der Not lassen wir das Tierreich nicht im Stich!“
Und so kam es, dass die Haustiere zusammen mit ihren schlimmsten Verfolgern, dem Löwen und den übrigen Raubtieren, gegen ihre bisherigen Kameraden, die Hühner, Gänse und Enten, kämpften, die sich dem Heer der Raubvögel angeschlossen hatten.
Als der Krieg zu Ende war, erinnerten die Haustiere den Löwen an sein Versprechen, dass er keinen Unterschied mehr machen wolle zwischen Raubtieren und Haustieren. Aber der Löwe und seine Räte lachten die Abgesandten der Haustiere ob ihrer Naivität weidlich aus und erklärten, dass dieses Versprechen nur für die Zeit der Not Geltung gehabt habe. Sie dächten gar nicht daran, ihre bevorzugte Stellung im Tierreich aufzugeben. „Übrigens“, so erklärten die Raubtiere zum Schluss, „wenn wir Hunger haben, werden wir euch, wie vor dem Krieg, wieder auffressen!“ Und so geschah es auch.

Geboren 1894 in Bad Mergentheim. Sekretär des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (1918-19). Auf Grund eines Willkürurteils 1922 - 1924 Zuchthaus. 1925 - 29 tätig für verschiedene Verlage und Zeitungen, leitete seit 1929 die Detmolder SPD-Zeitung. 1933 beim Transport in ein KZ ermordet.