Donnerstag, 2. August 2012

Der Lynx und der Maulwurf


nach La Motte

In jener goldnen Fabelzeit,
In unsrer Menschheit Kinderjahren,
Als der Sirenenlied, der Sphinxe Grausamkeit,
Und der Centaurenvolk, noch Ton und Sitte waren,
Lebt‘ auch der Lynx im Thiergebiet,
Ein Argus, dessen Späherblike
Durchdrangen jeder Mauer Dike,
Der schärfer als das Licht des Tages selber seiht,
Denn dieses kan ein dichter Nebel hemmen,
Und seinen Glanz ein Wolkenschleier dämmen.
Stark treibt diß Thier die Jägerei,
Auf Lauer ligend, weiß es in Gebüsch und Heken,
Die Zähne wezend, sich sehr künstlich zu versteken,
An List und Tüken ist es täglich neu.
Ein Maulwurf kroch von ungefehr
Einst neben ihm aus seinem Loche her.
„O Freund, sagt ihm der Lynx, wie bist du zu beklagen?
„Wie kannst du, armes Thier, des Lebens Bürde tragen?
„Blind bist du, dich hat Zeus vielleicht im Rausch gemacht!
„Für dich allein ließ er der Sonne Stral nicht glühen,
„Warum auf ewig dir das Tageslicht entziehen?
„Dein ganzes Leben ist nur eine lange Nacht.
„Sehr wol thust du, dich lebend zu vergraben,
„An dieser Welt kannst du doch keine Freude haben:
„Verschläng‘ ich dich – dir würd‘ es Wohltahat seyn!
„Verzeihen Sie, Herr Lynx, fiel ihm der Maulswurf ein,
„Ich freue mich, so gut als sie, zu leben,
„Hat Jupiter mich gleich zum lynxe nicht gemacht,
„Und hat er gleich an mir kein Meisterstük vollbracht,
„Ein feines Ohr hat er mir doch gegeben:
„Wol ist es ein paar Augen wehrt,
„Weil es so scharf du siehst, noch schärfer hört.
„Dein Adlerblik der fast auf eine Meile siehet
„Verräth dir nicht, was hinter dir geschiehet:
„Jedoch entdekt mir diß mein feines Ohr.
„Itzt wird, ich schwör‘ es dir, ein Bogen
„Von einem Jäger aufgezogen.
„Der Pfeil zischt durch die Luft, er dringt zu dir hervor.
Kaum hatte noch der Maulwurf ausgeredet,
So war der Argus schon durch diesen Pfeil getödet!

Vertheilt hat die Natur sehr klüglich ihre Gaben;
Denn sie gab einem alle nicht;
Kind, spotte dessen nie, dem dein Talent gebricht!
Nie wird der eine nichts, ein andrer alles haben.

Sittenlehre in Fabeln und Erzählungen für die Jugend
Mit Kupfern von J. R. Schellenberg
Nebst einer Abhandlung über die Frage:
Sind die Fabeln eine Uebung für Kinder, oder sind sie es nicht?
Winterthur, 1794

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