Mittwoch, 6. Juni 2012

Vogel Greif


Mein Flieger, mein kühner, wo gehts heut hin? 
»Hoch über die Wolken, schöne Gönnerin;
höher als höchste Alpenspitzen
soll mein Fahrzeug durchs Weltblau blitzen.«
        Vogel Greif heißt dein Fahrzeug? »Vogel Greif;
        heut soll er den Sieg mir greifen.«

Du kühner, du stolzer, dann nimm mich mit!
Und sie sprang in den Sitz mit straffem Schritt.
Nur an ihrer Brust das Blumensträußchen
zitterte wie ein gefangnes Mäuschen,
        als sie sich lachend den Wetterpelz
        um die schlanken Hüften legte.

»Du kühne, du schöne, wirf weg den Strauß!
leicht fliegt ein Blumenblättchen heraus;
ein einziges Blättchen ins Flugwerk verschlagen
kostet uns beiden Kopf und Kragen.«
        Und während der Vogel Greif knatternd stieg,
        kobolzte der Strauß in ein Kornfeld.

Viertausend Meter stieg er und mehr,
eisig kreiste das Weltblau um sie her;
aus stürzenden Wolken in sausendem Bogen
stiegen sie lachend, lachend, und flogen,
        bis die Erde ein fernes Fabelland war,
        Vogel Greif - da stockte das Flugwerk.

Da stockte das Lachen; nur's Steuer noch klang,
schrill das Steuer im Gleitflug-Sturmgesang.
Durch sausende Wolken in stürzendem Bogen
glitten sie keuchend, keuchend, und flogen,
        bis die Erde schon fast wieder Erde war:
        »Vogel, greif!« Da knackte das Steuer.

Wie vor zwanzig Minuten der Blumenstrauß
kobolzten sie aus dem Wrack hinaus,
hinaus, umklammert in wirbelndem Kreise
mit fliegenden Haaren zur letzten Reise;
        du kühner! du kühne! klangs geisterleise
        auf ins eisige Weltblau.

Und als man sie fand, er atmete noch,
im Todesfiebertraum sah er hoch,
hoch über die Wolken und hauchte: siegen -
morgen werden wir höher fliegen -
        morgen -
        höher - -

Richard Dehmel, 1863 - 1920
aus: Schöne wilde Welt, 1. Auflage 1913

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