Mittwoch, 4. April 2012

Der Fuchs und der Storch


Fingerhutmuseum Creglingen

Gevatter Fuchs, der Knauser, scheute nicht
Die Kosten, Nachbar Storch ein Gastmahl zu spendieren.
Das Mahl war karg: als einziges Gericht
Ließ klare Brühe unser Schelm servieren –
Und diese gar in einem flachen Teller.
Der Storch mit seinem langen Schnabel sticht
Umsonst hinein, doch schleckte um so schneller
Der Fuchs mit breitem Maul das Ganze auf.
Um sich zu revanchieren,
Bat kurze Zeit darauf
Der Storch den Fuchs, bei ihm nun zu soupieren.
Der sprach: »Ich komme gern,
Zu speisen bei so liebem Herrn.«
Er eilte zur gegebnen Zeit
Zur Storchenwohnung, pries die Liebenswürdigkeit
Des Freundes, labte sich entzückt
Am Duft des Fleisches, das zerstückt
Und fein gekocht – so ganz, wie er's am liebsten mag,
Zunächst noch abseits lag.
Er war mit gutem Appetit beglückt,
Der Füchsen selten fehlen soll.
Doch ach, wie war das jammervoll:
Man trug das Mahl in einer engen Flasche auf!
Die Mündung war nicht weiter als ein Büchsenlauf.
Der Storchenschnabel tauchte leicht hinein ins Glas,
Des Gastes Schnauze aber brauchte andres Maß.
Mit leerem Magen zog der Herr nach Haus,
Mit eingekniffnem Schwanz und schlappen Ohren;
Er sah beschämter als ein Füchslein aus,
Dem keck ein Huhn den Pelz geschoren.

Merkt's euch, Betrüger all auf Erden:
Auch ihr sollt so betrogen werden!

Jean de Lafontaine
Fabeln. Berlin 1923

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