Donnerstag, 8. März 2012

Der Mann und der Tod


Ein Mann, der mehr als fünf Jahrzehnte des Lebens durchmessen hatte, Freud und Leid, Muße und Arbeit, Glück und Unglück erfahren durfte, war des Lebens müde geworden. Was soll all dies noch, dachte er, neues werde ich kaum noch erleben können. Er rief nach dem Tod. Und da stand er plötzlich vor ihm.
»Du hast mich gerufen, mein Freund?“
Völlig konsterniert wusste der Mann nichts zu sagen.
»Nun bin ich da«, sagte der Tod. »Stets zu Diensten und immer bereit.«
»Ich weiß auch nicht, was mich da gerade geritten hat«, antwortete der Mann.
»Da kann ich dir auf die Sprünge helfen. Du bist deines Lebens überdrüssig, weißt nicht mehr, was du noch tun sollst. Und du hast mich gerufen. Laut und deutlich.«
»Hab ich das wirklich?« fragte der Mann. »Da kannst du mal sehen, was einem so passiert, wenn man philosophiert und tiefsinnigen Gedanken folgt. Das habe ich eigentlich nicht ernst gemeint.«
»Das verstehe ich wiederum nicht«, antwortete der Tod. »Da willst du etwas und meinst es nicht so? Aber sag nichts, ich kenne euch Menschen, und solche Wünsche passieren euch nicht nur, wenn ihr an die letzten Dinge denkt. Jetzt bin ich hier, was meinst du, was ich tun soll?«
»Kannst du nicht einfach wieder gehen?« fragte der Mann hoffnungsvoll.
Der Tod schüttelte den Kopf.
»Oder ruft dich möglicherweise gerade ein anderer?«
Wieder verneinte der Tod.
»Na dann komm du doch einfach mit mir. Das wäre eine Abwechslung, anstatt dass immer nur die Menschen mit dir gehen.«
Der Tod sah ihn verblüfft an, zögerte und nickte dann.
»Ja, das wäre mal etwas anderes. Also gut, ich komme eine Weile mit dir mit.«
Und so gingen der Tod und der Mann zusammen durch das Leben. Allerdings musste er bald feststellen, dass dies nicht vorteilhaft für ihn war. Die Menschen wichen dem Mann aus und mochten nicht mit ihm verkehren. Jemand, der mit dem Tod gut Freund schien, war niemandem geheuer. Bald wurde es einsam um den Mann. »Was lohnt es da noch zu leben, wenn man keinen hat, mit dem man reden, lachen, trinken, essen, sich freuen oder ärgern kann?«
»Willst du jetzt mit mir kommen?«, fragte der Tod.
Der Mann nickte. Der Tod aber antwortete:
»Gerade höre ich jemand anderen rufen. Du hast jetzt schon so lange Geduld gezeigt, da wird es dir sicher auf eine kleine Frist nicht mehr ankommen. Ich komme wieder, aber bis dahin lebe gut.«
Der Tod verschwand. Der Mann stellte kurz darauf fest, dass sich mit anderen Menschen doch gut auskommen ließ. Sie sprachen wieder mit ihm, lachten, wenn sie ihn sahen und bald lebte er vergnügt und freute sich an jedem Tag seines Lebens. Das ging eine lange Zeit, und er dachte nicht mehr an den Tod.
Eines Nachts aber kam er, als der Mann schlief. Er nahm ihn ohne ein Wort zu sagen mit. Als man ihn am anderen Morgen fand, trug der Mann ein Lächeln im Gesicht.

Horst-Dieter Radke

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