Montag, 31. Januar 2011

Die Jagd des Lebens


Adi Holzer - Bildquelle: Wikipedia

Es war einmal ein Jäger, der ging zu Wald in eine öde Wildnis, dort zu jagen. Da kam er einem Tiere auf die Fährte, als er dieses aber endlich entdeckte, wünschte er es nimmermehr gesehen zu haben, denn es war ein mächtiges Einhorn, welches sich gegen ihn stellte. Eilig wandte er sich zur Flucht, und stets verfolgte ihn das Einhorn, bis er auf eine steile Felswand kam, deren schroffen Abhang tief unten die Wellen eines dunklen Sees bespülten. In dem See schwamm ein ungeheurer Drache, der den Rachen gähnend aufriß, und plötzlich glitt der Jäger aus und wäre gerade hinab in den See und in des Drachen Schlund gestürzt, wenn er nicht an einem einer Felsritze entsproßten Strauch sich festgehalten hätte. Da war nun des Jägers Lage eine todängstliche. Droben stand, wie ein Wächter, das schreckliche Einhorn, drunten lauerte auf seinen Hinabsturz der greuliche Seedrache. In dieser Not ward seine Angst und Qual aber noch vermehrt, denn mit einem Male erblickte er zwei Mäuse, eine weiße Maus und eine schwarze Maus; die begannen an den Wurzeln der Staude zu nagen, und der Jäger vermochte nicht, sie hinwegzuscheuchen, weil er sich mit beiden Händen anhalten mußte. So mußte er jeden Augenblick gewärtig sein, daß die Wurzeln des Strauchs diesen nicht mehr halten würden. Über ihm stand ein Baum, von dem träufelte süßer Honig nieder, und gar zu gern hätte der Jäger diesen Baum erlangt, denn damit meinte er aller Qual erledigt zu sein, und über den Baum vergaß er aller ihm drohenden Gefahr. Wir wissen nicht, ob es ihm gelungen, aus seiner dreifachen Qual erlöst zu werden, oder ob die Mäuse des Strauches Wurzeln ganz abgenagt.

Der alte Dichter dieser Märe gibt ihr eine allegorische Deutung, indem er sagt: Der Jäger, das ist der Mensch, und das Einhorn, das ist der Tod, der ihm begegnet, ehe er es vermeint, und ihn immerdar verfolgt. Die steile Felswand ist die Erde, und der Strauch ist das Lehen, daran der Mensch nur mit schwachen Banden hängt. Die weiße und die schwarze Maus, welche das Leben an der Wurzel benagen, sind Tag und Nacht oder die rastlose Zeit, die an unserm Leben zehrt. Der dunkle See ist die Hölle, und sein Drache der Teufel, die darauf lauern, daß der Mensch falle und in ihren Rachen stürze. Der Honigbaum aber ist die Liebe, die das Leben versüßende, welcher der Mensch zustrebt und sie zu erlangen hofft zwischen Not und Tod, zwischen Qual und Pein, keiner Gefahr achtend, und mit deren Erringung er seine irdische Seligkeit findet. Doch soll der Mensch sich täglich hüten, da die Mäuse ihm an der Lebenswurzel zehren, daß er nicht in den See des Verderbens falle.


Ludwig Bechstein

Sonntag, 30. Januar 2011

Der Phönix

Bildquelle: Wikipedia

An einem schönen Tage kam
Aus weit entferntem Lande
Ein Wundervogel, und man nahm,
Obschon man ihn nicht kannte,
ihn gerne auf in unserm Haine;
Man folgte hier, wie oft, dem Scheine.

Ein Phönix war es, und es eilt.
Der Vögel Schaar, ihn zu begrüßen;
Man macht den Hof ihm, wo er weilt,
Man buhlt um seine Gunst; es müssen
Selbst Neid und Bosheit eingestehen,
Daß solche Pracht man nie gesehen.

Die Federn, seiner Stimme klang,
Erfüllet Alle mit Entzücken:
M;an nennet göttlich seinen Sang,
Und eilet, ihn mit Ruhm zu schmücken,
Nur dahin geht Aller Streben,
Mit Lob und Preis ihn zu erheben.

Die Nachtigall bekennet laut,
Nie Schonern sang gehört zu haben.
Der Pfau stets auf den Phönix schaut,
Um seinen Blick an ihm zu laben.
Bewundrung füllet Aller Herzen:
An Trennung denkt man nur mit Schmerzen.

Der Phönix wird als Himmelssohn,
Als Vogel-König sehr geehret;
Mit Staunen nur spricht man davon,
Wie er, vom Feuer nicht verzehret,
Verjüngt sich aus der Glut erhebet,
Und vor der Flamme Wut nicht bebet.

Doch während man den Phönix preist,
Seufzt eine Turteltaube leise.
Der Gatte hört die, und verweist
Die Schweigen ihr auf sanfte Weise.
„Es regt der Neid sich, wie es scheint?“
„O nein!“ – erwidert sie und weinet.

„Ihr preiset dieses Vogels Glück?
Ganz anders fühle ich im Herzen:
Mich jammert nur sein Missgeschick,
und füllet mir die Brust mit Schmerzen.
Der Arme steht allein:
Wie kann er glücklich seyn?“

Claris de Florian

Mittwoch, 26. Januar 2011

V. Der arme Taglöhner und der Tod

Bildquelle: Wikipedia

Ein armer Taglöhner schleppte sich die Tage seines Lebens jämmerlich fort, und doch legte er achtzig Jahre zurücke. Was er sich immer seufzend wünschte, war nichts anders als: Lieber Tod, komm doch endlich einmal! – Erlöse mich doch endlich, lieber Tod!

Der Tod erhörte ihn, und kam.

Der Taglöhner erschrack, und bath: nur drey Jahre noch, lieber Tod! – – lieber Tod, nur drey Jahre noch.

Nach dreyen Jahren kam der Tod wieder, und der arme Taglöhner bath wiederum um drey Jahre.

Je nun, sagte endlich der Tod. Ihr Menschen rufet mich, wenn ihr mich nicht sehet, und wenn ich komme, so fürchtet ihr mich. Ich will euch hinfür von ohnegfähr überfallen.

Von dieser Stunde an sterben die Menschen, wenn sie es am mindesten vermuthen.

Heinrich Braun
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
aus dem I. Buch
München, 1772

Donnerstag, 20. Januar 2011

Wie ein Land zu seinem namen kam

Bildquelle: Wikipedia

Um 1517 hatten die Spanier sich auf Kuba schon so festgesetzt, daß sie weitere Eroberungen planten. Hernandez de Cordova, der auf Kuba großen Besitz sein eigen nannte, segelte mit mehreren Schiffen westwärts. Nach wenigen Tagen stieß er auf ein schönes Land, das vorher kein fremder betreten hatte. Ein Boot wurde ausgesetzt, und bald kamen Indianer ans Ufer. Als man sie fragte, wie das Land heiße, sagten sie: „Yu ca tan“ – das bedeutete in ihrer Sprache: „Ich verstehe dich nicht!“ Da die Spanier annahmen, dies sei der einheimische Name des Landes, verbreitete er sich in der zivilisierten Welt. Als man später den Irrtum erkannte, hatte man sich schon so daran gewöhnt, das Land Yukatan zu nennen, daß der Name bis heute erhalten blieb.

A. S. S. (1926)

Dienstag, 18. Januar 2011

Die Muse und der Fabeldichter

Die Muse erschien dem Fabeldichter, und fragte ihn: Warum läßt du doch die Thiere oft vernünftiger sprechen, als die Menschen?

Weil die Menschen, war die Antwort, oft unvernünftiger handeln, als die Thiere.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772

Aus der Vorrede:

Wie aber? Soll Niemand Satyren schreiben, als Rabner? – Niemand Heldengedichte, als Klopstock? – Niemand Idyllen, als Geßner? – niemand Fabeln, als Gellert und Leßing? – Man darf es doch wagen! – Man darf doch auch in unsern Gegenden anfangen. Jemand muß doch die Pfade machen. jemand vorausgehen. ich wage es, und weiß zu meiner Entschuldigung nichts anders zu sagen, als daß ich es gewagt habe.

Geschrieben München den 1ten September 1771

Freitag, 14. Januar 2011

Vom Schnee und vom Schneeglöckchen


Der Herr hat alles erschaffen: Gras und Kräuter und Blumen. Er hatte ihnen die schönsten Farben gegeben. Zuletzt machte er nun noch den Schnee und sagte zu ihm: »Die Farbe kannst du dir selbst aussuchen. So einer wie du, der alles frisst, wird ja wohl etwas finden.«
Der Schnee ging also zum Gras und sagte: »Gib mir deine grüne Farbe!«
Er ging zur Rose und bat sie um ihr rotes Kleid. Er ging zum Veilchen und dann zur Sonnenblume. Denn er war eitel. Er wollte einen schönen Rock haben. Aber Gras und Blumen lachten ihn aus und schickten ihn fort.
Da setzte er sich zum Schneeglöckchen und sagte betrübt: »Wenn mir niemand eine Farbe gibt, so ergeht es mir wie dem Wind. Der ist auch nur darum so bös, weil man ihn nicht sieht.«
Da erbarmte sich das Schneeglöckchen und sprach: »Wenn dir mein Mäntelchen gefällt, kannst du es nehmen.«
Der Schnee nahm das Mäntelchen und ist seitdem weiß.
Aber allen Blumen ist er seitdem feind, nur nicht dem Schneeglöckchen.

Oskar Dähnhardt
aus: Natursagen
Eine Sammlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden

Sonntag, 9. Januar 2011

radioEdi: Fabel-CD

Etwas spät gemerkt habe ich, dass es von radioEdi eine CD mit neuen Fabeln gibt - musikalisch mit Klarinette und Hang untermalt. Näheres dazu gibt es hier.

Etwas aus dieser CD kann man sich auch direkt im Internet anhören. Nämlich da.

Samstag, 8. Januar 2011

Fuchs, Hühner & Gans



Der Fuchs holte
Vier Hühner in der Nacht
Ich fand keine Kadaver
Gänsebraten am ersten Weihnachtstag
Vom Bauern auf der anderen Seite
...

Freitag, 7. Januar 2011

Die Rangierlokomotive und der Prellbock



»Sie sind mir im höchsten Grade unsympathisch, um mich nicht schärfer auszudrücken«, sagte die Rangierlokomotive zum Prellbock.

Es war eine Rangierlokomotive ältester Konstruktion, die nur noch dazu verwandt wurde, auf dem Hauptgüterbahnhof Waggons, die entladen werden sollten, in ein sogenanntes »totes Gleis« zu ziehen, an dessen Ende der Prellbock stand.

»Unsympathisch sind Sie mir«, knirschte sie und rannte absichtlich hart gegen den Prellbock.

»Lassen Sie mich doch, bitte, nicht immer unter Ihrer Unzufriedenheit leiden; ich kann doch nichts dafür, daß man Sie hier auf den Rangierbahnhof gesteckt hat«, meinte der Prellbock gutmütig, »ergeben Sie sich doch in Ihr Schicksal.«

»Ergeben – ergeben – so ein dummes Gewäsch! Man möchte explodieren, wenn man es mit ansehen muß, wie man heute unreifen, unerfahrenen Laffen von Maschinen, kaum der Werkstätte entwachsen, Züge anvertraut. – Einen roten Streifen um den Schornstein und all die anderen Firlefanzereien habe ich nicht – Gott sei Dank, es täte mir leid – ich bin eine solide Person. – Ich, ausgerechnet ich, bin dazu verdammt, blöde ungebildete Güterwagen auf und ab auf diesem idiotischen Gleise zu ziehen. – Veraltet sei ich! Ha – Ha – ha! Ich veraltet! – Und Sie«, fiel sie plötzlich über den Prellbock her, »Sie haben nicht das geringste Verständnis für die Tragik in meinem Leben. – Ihre langweilige Physiognomie immer vor Augen, das geht mir, weiß Gott, auf die Nerven. – Sie sind schuld! Sie versperren mir den Weg in die Welt! Ha, wie würde ich den Herren vom grünen Tisch zeigen, was die veraltete Lokomotive zu leisten vermag; hätte ich nur freie Fahrt vor mir. – Sie – Sie versperren mir den Weg – Sie Reaktionär!! Wenn Sie wüßten, wie ich Sie hasse, vom Grund meiner Seele aus hasse. – Glotzen Sie nicht so dumm!« Sie rannte wütend gegen den Prellbock.

»Immer Ruhe, Ruhe«, suchte der Prellbock die Aufgeregte zu beschwichtigen. »Sie verbiegen sich nur die Puffer, und das ist schmerzhaft.«

Sein Phlegma erhöhte nur ihren Zorn. Rasend vor Wut pfiff sie gellend auf. – –

Tag für Tag wiederholten sich diese Szenen, und die Ausfälle gegen den guten Prellbock wurden immer heftiger, so daß es schließlich diesem, der doch eine Seele von einem Kerl war, zuviel wurde. Als wieder mal die Lokomotive in der gemeinsten Weise über ihn hergefallen war und ihn unter anderem ein »reaktionäres Mastodon« genannt hatte, riß dem Prellbock, der zwar nicht so recht wußte, was ein Mastodon sei, jedoch das Empfinden hatte, daß es ein sehr verletzendes Schimpfwort sein müsse, die Geduld, und er brüllte plötzlich los: »Lossen's mir mai' Ruah! Mai Ruah will i hob'n!«

»Sprechen Sie Hochdeutsch mit mir, Sie Flegel!« schrie die Lokomotive und kam in voller Fahrt haßerfüllt auf den Prellbock losgefahren, um sich in einem empfindlichen Stoß zu rächen. – Fast berührten ihre Puffer den Prellbock, als dieser blitzschnell zur Seite sprang; die Lokomotive sauste durch, vergrub sich mit den Rädern im Dreck, überschlug sich und explodierte mit furchtbarem Knall.

»Mastodon. So eine Gemeinheit. Diese freche Person«, murmelte vor Erregung keuchend der Prellbock und hüpfte wieder an seinen alten Platz.

Hermann Harry Schmitz
aus: Drei Fabeln ohne Moral

Donnerstag, 6. Januar 2011

Der Hahn und der Wurm


An einem Freitag morgen sagte der Regenwurm nach dem Morgenkaffee zu seiner Frau: »Höre mal, Traudchen, es wird mir hier unten zu muffig, ich krieche ein wenig nach oben, um Luft zu schnappen.«

»Gott, Kaspar«, ängstigte sich die Regenwürmin, »gib nur bei Leibe acht, daß dir nichts passiert. Du weißt, speziell Hühner sind so unglaublich roh und rücksichtslos.«

»Ich bin Fatalist«, sagte der Regenwurm kurz und verabschiedete sich von seiner Frau. Leise vor sich hinweinend, schaute die Gute ihrem Gemahl nach, bis er an der Biegung des Ganges verschwand.

Im Hühnerstall krakeelte zur gleichen Zeit der Hahn mit den Hühnern.

»Ich bin den ewigen Körnerfraß leid. Wenn derartig nachlässig für mich gesorgt wird, suche ich mir draußen selbst etwas. Wann hatte ich den letzten Regenwurm?« fuhr er sein Lieblingshuhn Mathilde an. »Um Pfingsten«, stammelte dieses ganz zerknirscht. Der Hahn warf die Tür ins Schloß und ging auf den Hof. –

Der Regenwurm war mittlerweile oben angelangt und hatte gerade das Loch verlassen.

»O Schrecken! Ich bin verloren«, murmelte er entsetzt, als er den Hahn gewahrte, der soeben die ersehnte Delikatesse erspäht hatte und in eiligen Schritten auf ihn zukam.

Schon bückt sich der Hahn, um sein Opfer zu verschlingen; da richtet sich der Regenwurm in seiner ganzen Länge kerzengerade auf und schnarrt dem Hahn entgegen: »Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel.«

Der Hahn prallte zurück. – Da er nicht gern Stricknadeln mochte, stammelte er verlegen: »Dann entschuldigen Sie, bitte«, machte eine leichte Verbeugung und ging weiter.

Der Wurm lachte sich ins Fäustchen.

Hermann Harry Schmitz
aus: Drei Fabeln ohne Moral

Mittwoch, 5. Januar 2011

Der Fuchs und die Trauben


»Na, ich konnte mir auch denken, daß die Trauben noch nicht reif waren«, sagte der Fuchs und stellte den Stuhl, auf welchen er gestiegen war, um die Trauben zu kosten, wieder an seinen Platz.

Er streckte sich behaglich am Fuße des Weinstockes aus und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen.

Von ohngefähr kam der Rabe geflogen. Der Rabe war ein Witzbold, ein wenig Satiriker; die Tiere meinten, er sei boshaft. Er selbst hielt sich für einen Lebens-Künstler; er war stets im evening dress.

»Hallo, wie schaut's, alter Freund«, – Leute, die man nicht mag, nennt man gern alter Freund – rief er dem Fuchs zu.

»N Tag«, erwiderte lässig der Fuchs.

»Ah so, Traubenkur, was?«

»Zu sauer«, gähnte der Fuchs faul.

»Verstehe, verstehe«, kicherte hämisch der Rabe, flog an den Weinstock und pickte eine dicke Beere ab.

»Pfui Teufel!« Wütend spuckte er aus und flog beschämt davon.

Der Fuchs feixte befriedigt.

(1880 - 1913)
aus: Drei Fabeln ohne Moral
zuerst erschienen in: 
Sonntagsblatt des "Düsseldorfer General-Anzeiger"
vom 29.12.1907, Nr. 52.

Dienstag, 4. Januar 2011

Fabel ohne Moral

Wenn ich dich nur hätte, sagte der Mensch zu einem Pferde, das mit Sattel und Gebiß vor ihm stand, und ihn nicht aufsitzen lassen wollte; wenn ich dich nur hätte, wie du zuerst, das unerzogene Kind der Natur, aus den Wäldern kamst! Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel, dahin, über Berg und Tal, wie es mich gut dünkte; und dir und mir sollte dabei wohl sein. Aber da haben sie dir Künste gelehrt, Künste, von welchen ich, nackt, wie ich vor dir stehe, nichts weiß; und ich müßte zu dir in die Reitbahn hinein (wovor mich doch Gott bewahre) wenn wir uns verständigen wollten.

Heinrich von Kleist

Sonntag, 2. Januar 2011

Der Fuchs und der Tiger

Der Fuchs begegnete einst einem Tiger. Der zeigte ihm die Zähne, streckte die Krallen hervor und wollte ihn fressen. Der Fuchs sprach: »Mein Herr, Ihr müßt nicht denken, daß Ihr allein der Tiere König seid. Euer Mut kommt meinem noch nicht gleich. Wir wollen zusammen gehen, und Ihr wollet Euch hinter mir halten. Wenn die Menschen mich sehen und sich nicht fürchten, dann mögt Ihr mich fressen.«
Der Tiger wars zufrieden, und so führte ihn der Fuchs auf eine große Straße. Die Wanderer nun, wenn sie von fern den Tiger sahen, erschraken alle und liefen weg.
Da sprach der Fuchs: »Was nun? Ich ging voran; die Menschen sahen mich und sahen Euch noch nicht.«
Da zog der Tiger seinen Schwanz ein und lief weg.
Der Tiger hatte wohl bemerkt, daß die Menschen sich vor dem Fuchse fürchteten, doch hatte er nicht bemerkt, daß der Fuchs des Tigers Furchtbarkeit entlehnte.

Wilhelm, Richard:
Chinesische Volksmärchen
Jena, 1914