Sonntag, 13. November 2011

Die Truhe

 
Gar häufig kommt uns vor der Fall,
daß man mit vielem Wissensschwall
sich quält, wo’s nur gilt, ohne Zagen
die Sache selber zu befragen.

Vom Schreiner brachte man zu jemand eine Ruh’.
Das saubre Stück war eine rechte Augenweide,
und jeglicher hat daran seine Freude.
Ein Jünger der Mechanik tritt hinzu;
der sieht die Truhe an und ruft: »Ah, ein Geheimnis!
Jawohl, sie hat kein Schloss –
nun, nun, ich öffne sie Euch ohne Säumnis.
Seht mich nicht an so groß!
Ich find’ es schon heraus, ich öffne Euch die Truhe,
in der Mechanik habe ich was los – das lässt mir keine Ruhe.«

Er macht sich an die Truhe flugs,
er späht nach allem wie ein Luchs,
zerquält sien Hirn, o Jammer,
drückt auf ‚nen Nagel bald und bald auf eine Klammer.
Wer so sein Tun erblickt,
hält ihn für halb verrückt,
man flüstert und man lacht,
er aber murmelt immer sacht:
»Hier nicht, so nicht, da nicht.« Sein Eifer wächst,
er schwitzt und schwitzt und meint, er sei verhext.
Doch wie die Kraft zu Ende geht,
lässt er die Truhe, wie sie steht.
Die saure Mühe konnt’ ihn wohl verdrießen:
die Truhe war nicht zum Verschließen.

Iwan Andrejewitsch Krylow
Fabeln, Leipzig 1874
Original: St. Petersburg 1843
Übersetzer: Ferdinand Löwe

Keine Kommentare: