Sonntag, 28. August 2011

Das Einhorn und der Bischof


Eines Tages begegneten sich das Einhorn und der Bischof. Das Einhorn ging eine Weile neben dem Bischof her.
“Wie geht’s” fragte der Bischof höflich.
“Nicht gut”, sagte das Einhorn.
“Wie kommt’s?” fragte der Bischof erstaunt.
“Die Menschen erkennen mich nicht mehr”, antwortete das Einhorn traurig. “Wenn sie mich überhaupt sehen, versuchen sie mich zu jagen, weil sie sich wer weiß was vorstellen, was sie mit mir und meinem Horn anfangen können. Und Jungfrauen gibt es ja auch fast nicht mehr.”
“Ja, da hilft kein Predigen mehr”, schimpfte der Bischof. “Die Unzucht hat die Herrschaft über die Welt bekommen.”
“Aber warum ich so in Vergessenheit geraten bin, das verstehe ich nicht”, sagte das Einhorn.
“Das ist kein Wunder”, erklärte der Bischof. “An dich muss man nicht glauben, dich kann man ja sehen - wenn man will. Alles aber, was die Menschen sehen können, ist ihnen nicht geheimnisvoll genug.”

“Meinst du?” fragte das Einhorn und überlegte, ob es sich besser gänzlich unsichtbar machen solle.
“Aber der eigentliche Grund liegt wohl darin, dass du über die Menschen keine Macht ausüben willst. Da haben sie keine Ehrfurcht vor dir. Sieh mich an, mich fürchten die Menschen. Ich sorge schon dafür, dass sie keine Ruhe finden, denn ich drohe Ihnen mit dem, was sie nach dem Tod erwartet. Sie fallen deshalb reihenweise vor mir auf die Knie und ich kann ihnen erzählen, was ich will - sie glauben mir alles, gerade, weil sie es nicht sehen können.”
“Und das gefällt dir? Macht über die Menschen auszuüben?”
“Aber ja!” rief der Bischof. “Das ist ein herrliches Gefühl zu sehen, wie sie den Nacken beugen, weil ich das so will.”
Da beschloss das Einhorn, ein für alle Mal aus dem Leben der Menschen zu verschwinden. Es wollte geliebt und geschätzt, möglicherweise auch ein wenig bewundert werden. Keinesfalls aber wollte es, dass die Menschen sich vor ihm fürchten. Und Macht über sie bekommen mochte es auch nicht.
Seit es aber verschwunden ist, möchten die Menschen wieder an das Einhorn glauben.


Horst-Dieter Radke
Mehr vom Verschwinden des Einhorns gibt es hier.


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