Donnerstag, 10. März 2011

Der Edelstein

Sakuntala schaut zurück
Raha Ravi Varma (1848 - 1906)
Bildquelle: Wikipedia

Zweite Parabel

1807

Sakontala, die schönste und liebenswürdigste unter den Königinnen Indiens, feierte den Tag ihrer Geburt mit Thränen und stillem Gebet zu Brama. Denn es hatte ein furchtbarer Krieg das Land verheert, und der Herrscher Indiens, ihr Gemahl, war ferne von ihr im Gewühl der Schlachten. Aber, was ihren Schmerz noch herber machte, viele der Getreuen des Landes waren im Streit gefallen, und andere Diener des Königs, obwohl er sie mit Wohlthaten und Ehre gekrönet hatte, waren abtrünnig und in dem Undank und der Feigheit ihres Herzens offenbaret worden zur Zeit der Gefahr. Darum weinete Sakontala im Stillen und der Tag ihrer Geburt war ihr wie ein Tag des Todes.
Da trat der dienenden Frauen Eine herein zu der traurenden Fürstin und sprach: Siehe, der Brame ist da, der dir die Blumen seines Thals überreichet.
Aber Sakontala seufzte und sprach: Wie könnten Blumen mein zerrissenes Herz erfreuen und mir ein Schmuck seyn zu meinen erblaßten Wangen? - Jedoch, - sagte darauf die holde Königin - führet ihn zu mir, damit ich aus seiner Gabe erkenne, daß in meinem Kummer die Liebe treuer Einfalt mir bleibet.
Der alte Bramin kam und verneigte sein Angesicht und sprach: Siehe du freundliche Herrscherin und Mutter deines Vokes, deine Leiden haben dir nicht die Herzen der Bewohner des Thals entfremdet, wo du einst wandeltest, als noch der erste Lenz des Lebens dir lächelte. Denn der Wechsel des wankelmüthigen Glückes mag die Bande treuer Liebe nicht lösen; wohl schlingt er sie fester. – Doch Blumen bring‘ ich dir nicht. Sie sind zertreten in unserm Thale, aber sie werden schöner aufblühen, wenn Brama nach dem Sturme den Lenz hernieder sendete. Ich bringe dir das Köstlichste, was unser Thal erzeugte - einen Edelstein, so schön als jemals Indien einen sah.
Die unvergleichliche Herrscherin blickte schweigend und voll Verwunderung den Bramen an.
Er aber redete ferner und sprach: Blumen weihete ich dir, als noch auf deinem schönen Antlitz der jugendliche Glanz ungetrübter Freuden blühete. Aber Brama hat dir Leiden gesendet; ich sehe deine Wange umhaucht von der Blässe des stillen Kummers; ich wußte, daß du mit Thränen den Tag deiner Geburt begrüßen würdest. – Schönen Seelen sind sie ein Thau des Himmels, der ihre Blüthe vollendet. – So heiliget Brama seine Lieblinge! Siehe, darum bring‘ ich dir nun das Edelste, was die Natur erzeugt.
So sprach der Brame und setzte mit freundlicher Ehrfurcht ein Kästchen von Ebenholz zu den Füßen Sakontala. Herrlicher strahlte das edle Gestein in der dunklen Umfassung.
Da neigte die Königin ihr Antlitz und schauete auf das Kästchen und den edelen Stein, der es mit seinen Strahlen erfüllete. Und eine helle Thräne sank von ihren Wangen hernieder.
Der Bramin aber kehrt ein das einsame Thal zurück, und wandelte still und voll Wehmuth. Denn er hatte die Thränen Sakontala’s gesehn.

Parabeln
von Dr. Friedrich Adolph Krummacher
Essen, 1829

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