Sonntag, 12. Dezember 2010

Die Parabel von der Schneeflocke





»Ich lass mich fallen«, sagte der Wassertropfen in der Wolke. »Ich bin es Leid nur ein kleines Glied in dieser riesigen Ansammlung von Wasser zu sein. Ich sehne mich danach, ganz nur mir zu gehören und mein eigenes Leben von dem der anderen zu unterscheiden.«

Der Tropfen löste sich aus der Wolke und mit ihm viele andere, die das gleiche Begehren hatten. Da es kalt war, gefror der Tropfen zu einem wunderschönen Stern aus feinen Eiskristallen. Langsam schwebte die Schneeflocke der Erde entgegen, genoss dabei ihre Freiheit, nahm auch die anderen wahr, die mit ihm herabschwebten, grüßte die einen und ignorierte die anderen. Sie lies sich vom Wind treiben, meinte gerade, die endgültige, absolute Freiheit erreicht zu haben, da setzte sie auf dem Boden auf. Sie kam auf andere Schneeflocken zu liegen und wieder andere legten sich auf sie, bis alle in einer dicken Schneedecke einen festen Verbund bildeten.

Immer neue Flocken kamen, der Frost tat ein übriges, und so war bald keinen Raum mehr zwischen den einzelnen Flocken. Da sehnte sich die Schneeflocke nach der lockeren Wolke zurück, in der sie so viel mehr Freiheit hatte. Doch hier auf dem Boden in der Masse der anderen, unbeweglich und eingeklemmt verlor sie bald neben dem Gefühl für den Verlust der Freiheit auch das Gefühl für sich selbst.


Horst-Dieter Radke

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