Montag, 15. November 2010

Der Hirsch, der sich über sein Schicksal beklagte

Muß ich denn, sprach ein Hirsch, allein

Ein Raub der Hund’ und Menschen seyn?

Vor stündlichen Gefahren beben?

Und länger noch als Andre leben?
Natur! so rief er jämmerlich,
Natur! o warum schufst du mich?



Ein Hase lief bey ihm vorbey.

„Du kleines Thier lebst sorgenfrey.

Wie leicht, wenn Jager uns entdecken,
Kann solch ein Würmchen sich verstecken!“
Wo kam denn jüngst mein Weibchen hin,

Sprach dieser, wenn ich sicher bin?



Indessen trabt ein großer Bär

Tiefsinnig seinen Holzweg her.
Wär’ ich so stark, rief er von neuen,
Wie sollten sich die Jäger scheuen!

Dich zog das Gluck uns allen vor. –

Ja! sprach der Bär, das weiß mein Ohr.

Ein Rebhuhnflug schoß schwirrend auf.
Was hilft mir, sprach der Hirsch, mein Lauf?
O könnt’ ich als ein Rebhuhn fliegen! 
...
Thor! siehst du nicht den Spürhund liegen?

Rief eines fliehend: flieh, wie wir;

Der Jager zielt nach uns und dir.
 
Ein Schuß geschah: der Hirsch entflieht.
Wenn nichts sich der Gefahr entzieht,

Was will ich denn durch stätes Grämen

Mir vor der Zeit das Lehen nehmen?

So sprach der Hirsch. – Mich selber däucht,
Was alle trifft, erträgt man leicht.

Karl Wilhelm Ramler

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