Dienstag, 5. Oktober 2010

Zuneigungs-Schrift an meine liebe Mutter die Wahrheit

Liebe Mutter,

Wie [ist] es Euch seit Eurem Abschied von ** ergangen? ob Ihr noch lebt? ob Ihr den Teutschen Boden gar verlassen? oder euch, wie Ihr zuweilen im Sinn gehabt, in die Wüste geflüchtet? habe ich seit unserer Trennung nie erfahren können.

Unserer Freunde, deren, wie Ihr wißt, noch wenige seynd, wollen mich versichern, Ihr habt euch an den Hof eines guten und weisen Fürsten begeben, der habe Euch an seinem Fürstenstuhl zu stehen vergönnt, Ihr gienget vor Ihm her in den Rath und weichet nie von seiner Seite, die Unschuld und Tugend zu Ihm zu begleiten, seye euer tägliches Amt, durch Euch rede der Fürst Worte der Gnade und der Gerechtigkeit zu seinem Volk, preißwürdige Thaten zu den Menschen.

Andere hingegen sagen mir: Unsere Feindinnen, die Verläumdung und Lügen, hätten ihren alten Proceß gegen Euch gewonnen, ungehört und unbefragt wäret Ihr in vier Mauren gebracht worden, wo Euch mit niemand mehr zu reden vergönnet seye.

Ihr habt mich gelehret, Mutter, den Menschen eben so viel Gutes als Böses zuzutrauen, ich glaube jenes, indem ich dieses fürchte. Doch wie kan, hat mir offt meine Tante, Gute-Gewissen, gesagt, wie kan die Tochter der Wahrheit um ihre Mutter sich fürchten!

Ihr habt mich, wie Ihr noch wohl wißt, in den Händen der Weisheit, meiner Groß-Mutter, zurückgelassen, sie konnte mich aber, da sie von den Göttern der Erde berufen worden, Friede unter Ihnen zu machen, nicht länger bey sich behalten, sie schickte mich in die Welt: Jung seyd ihr noch, sagte sie, ihr werdet noch wohl Freunde finden, so viel Feinde auch Eure Mutter hat.

Ein mitleidiger Greis, edel von Herzen und Bildung, brachte mich in die Hütte eines Patrioten, der mich lieb gewann, weil ich Eure Tochter bin, er umhüllte mich in ein leichtes Gewand, in welchem ich dem verwöhnten Auge der Menschen unanstößiger wäre. Ich gienge mit ihm auf Reisen, ich sahe die Welt und die Höfe, ich erkannte den Menschen, ich sammelte meine Anmerkungen und verfaßte sie in der Sprache meines Pfleg-Vaters, Aesops.

Ich sende sie Euch hier, liebe Mutter, durch Fama, unsere Freundin, die Euch noch zu finden vermeinet. Erkennet darinnen, bitte ich Euch, die ächte Mine und das ehrliche Herz
Eurer
gehorsamen Tochter
der Fabel

Friedrich Carl von Moser
Der Hof in Fabeln
Leipzig, 1762

Keine Kommentare: