Mittwoch, 8. September 2010

Die Nüsse


Zwei müde Wandrer sah'n an ihrer Straße Rand
Einst einen Baum, der voll der schönsten Nüsse stand.
Der Hunger reizte sie, die Früchte zu genießen,
Sie füllten erst den Hut, die Taschen dann mit Nüssen.
Dem einen Städter war die Frucht ganz neu;
Er biß die Rinde mit der Schal' entzwei,
Und sagte: »Pfui, wie derb und bitter ist die Rinde!
Ist's möglich, daß der Mensch die Nuß genießbar finde?
Für einen Esel, für ein Schwein
Mag dies Gericht wohl lieblich seyn!
Dir schwör' ich, daß es mir wie Gall und Wermut schmeckte!
Sieh da, wie's mir die Hand und Kleid befleckte!«
Der Andre sprach: »Woher der Ekel - bist du toll?
Wer wird auf eine Frucht von Färb' und Hülste schließen?
Du wirst den Kern erst kosten müssen,
Weil nicht das Auge sie, der Gaumen schätzen soll.«
Dann lehrt er ihn, wie man die Nüsse,
Von Rind' und Schale los, genießt;
Zerdrückt zwey Nüsse mit der Hand,
Und bieth ihm dar, die schönen weißen Kerne,
Daß er daraus den Wert der Nüsse kennen lerne,
Die nun sein Freund vortrefflich fand.

Laß, Jüngling, diese Fabel dir zur Lehre dienen:
Die Menschen schätze nie nach Kleidern, Geld und Mienen.
Dring auf den Kern - aufs Herz und den Verstand.

Vaterländische Unterhaltungen
Ein belehrendes und unterhaltendes Lesebuch
zur
Bildung des Verstandes, Veredlung des Herzens, Beförderung der Vaterlandsliebe und gemeinnütziger Kenntnisse
für die Jugend Österreichs
von Leopold Chimani
Vierter Teil
Wien 1815, Im Verlage bey Anton Doll

Keine Kommentare: