Sonntag, 26. September 2010

Chinesische Fabeln

Die Anwendung von Fabeln, um irgendeine schlichte Wahrheit mitzuteilen, oder um die Gedankenspitze eines Sittenspruches zu bekräftigen, ist im chinesischen Volk ebenso bekannt wie bei uns und andern europäischen Kulturnationen. Und da die Grundeigenschaften der Menschen überall gleich sind, kommen in Fabeln aus dem „Land der Mitte“ Gedanken zum Ausdruck, die auch wir verstehen. Eine der bekanntesten chinesischen Fabeln ist die von der Katze und den Mäusen, die meist kurz folgendermaßen erzählt wird: »Eine alte Katze saß eines Abends schreiend, mit halbgeschlossenen Augen aufrecht da, als sie von zwei Mäusen gesehen wurde. Durch das Benehmen der Katze erstaunt und überrascht, daß ihr alter Feind so unaufmerksam war, sagten sie gegenseitig zu sich: ‚Die Katze hat sich scheinbar gebessert, sie betet, und wir brauchen keine Angst zu haben.‘ Beide begannen daher miteinander zu spielen, ohne auf die Katze acht zu geben. Kaum kamen sie der Katze näher, als diese auch schon auf einer der Mäuse lossprang und das unachtsame Geschöpf verzehrte. Die andere Maus lief davon. In ihrem Schlupfwinkel angelangt, sagte sie zu einem Genossen: ‚Wer hätte das gedacht, daß eine Katze, die ihre Augen schließt und betet, so grausam sein könnte?‘«


Die Moral ist: man soll Kreaturen, die ihre Andacht offen zur Schau tragen, am wenigsten trauen.


Schlangen kommen häufig in chinesischen Fabeln vor. Eine der am meisten erzählten, die an die wohlbekannte Geschichte vom Kopf, dem Magen und den Gliedern erinnert, in der Hände und Füße sich weigerten, ferner zu arbeiten, um Organe zu befriedigen, die nichts für den Broterwerb tun. Die Fabel lautet: »Kopf und Schanz einer Schlange stritten miteinander. Der Schwanz behauptete, daß er ebensoviel Rechte wie der Kopf habe, die Bewegungen des ganzen Körpers zu bestimmen, umso mehr, da der Kopf alle Freuden des Essens und Trinkens genieße. Der Schwanz verlangte, die Bewegungen des Körpers zu bestimmen, und sagte, er wolle künftig das Kommando übernehmen. Er fing sogleich an, sich rückwärts zu bewegen. Da ihm von der Natur aber keine Augen gegeben sind, stürzte er in einen morastigen Graben, aus dem die Schlange nicht mehr herauskam, und erstickte.«


Der Tiger kommt in chinesischen Fabeln nicht weniger häufig vor als die Schlange. Eine dieser Fabeln  lehrt, daß Scharfsinn mehr wert ist als Kraft. Ein Tiger wollte einen Fuchs verschlingen. Da bat Reineke für sein Leben, da er klüger als alle andern Tiere sei, und sagte: »Wenn du mir nicht glaubst, komme mit mir und überzeuge dich, daß es so ist.« Beide gingen nun miteinander. Jedes Tier, das dieses Paar sah, lief eiligst davon, sobald sie näher kamen. Der Tiger, zu dumm, um einzusehen, daß nur er die Tiere in Schrecken versetzte, bekam so große Achtung vor dem Fuchs, daß er ihn nicht fraß.


Eine andere Fabel schildert die Torheit des Geizes. »Ein reicher Mann besaß viele Juwelen, auf die er stolz war. Eines Tages zeigte er die Kostbarkeiten einem Freund, der die Steine bewunderte und beim Abschied sagte: ‚Ich danke dir für deine Juwelen.‘ Da schrie der Reiche: ‚Was redest du da? Ich habe sie dir nicht gegeben; warum dankst du mir?‘ Da sagte der Freund: ‚Ich fand am Anblick der Juwelen soviel Freude als du. Der einzige Unterschied zwischen uns ist nur der, daß du Mühe und Sorge hast, deine Schätze zu bewachen.‘«


A.Ld.
aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens
13. Band, Jahrgang 1924, S.188 ff.

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