Mittwoch, 10. Februar 2010

Die Ratte und der Elefant


Der Eigendünkel kommt in Frankreich häufig vor:
Man spielt den einflußreichen Mann
Und ist doch nur ein Bürger, nur ein Tor,

Der seiner Eitelkeit nicht widerstehen kann.

Die Eitelkeit ist auch dem Spanier eigen,
Doch pflegt er sie nicht so zu zeigen;
Sein Dünkel scheint mir närrischer zu sein,

Doch nicht so dumm und nicht so kindisch klein.

Den unsrigen soll euch ein Beispiel geben,

Das ich mit Fleiß gezeichnet nach dem Leben.
Die allerkleinste Ratte sah einmal
Den allergrößten Elefanten gehen,
Und höhnte laut, es wäre ein Skandal,

Den Schneckengang des Riesen anzusehen.
Der Elefant war feierlich geschmückt,

Und lang und breit mit schwerer Last beglückt:
Des Sultans edles Weib
Nebst ihrem liebsten Zeitvertreib,

Dem Hündchen, Äffchen und der Katz,
Der Magd und allem Putz und Tand,

Ja selbst dem Papagei noch auf der Hand,

Fand auf des Tieres breitem Rücken Platz

Zu einer fernen Pilgerreise.

Die Ratte höhnte die demütige Weise,

Mit der das Volk zur Seite wich.

»Es scheint,« rief sie, »man achtet den am meisten,
Der rücksichtslos für sich

Den größten Raum in Anspruch nimmt.

Ist's denn die Masse, die den Wert bestimmt?

Kommt's mehr nicht darauf an, etwas zu leisten?
Den Elefanten fürchtet jedes Kind,
Doch wir, die wir viel kleiner sind,

Wir stehn an Kraftbewußtsein ihm nicht nach!«
Das war es, was die tief empörte Ratte sprach.

Sie hätte wohl noch mehr gesprochen,

Doch eine Katze, die herbeigekrochen,

Bewies der eitlen Kleinen kurzerhand,

Daß eine Ratte schwächer als ein Elefant.

Jean de Lafontaine

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