Samstag, 31. Oktober 2009

Der Basilisk

Basilisk aus dem Basler Münster

Zu Satan sprach die alte Schlange:
Ich borgte dir zum Untergange
Des Menschen meinen Balg; allein was war mein Lohn?
Des Rächers Fluch und der noch ärgre Hohn,
Als Wurm auf meinem Bauch zu gehen.
Kann deine Kunst mein Ungemach
Nicht lindern, ha! so mußt du mir gestehen,
Mein Freund, du bist auch gar zu schwach.
Ich kann es und du sollst es sehen,
Rief der Verführer brüllend aus.
Er speyt die Natter an. Aus ihrem Rücken sprießen
Zween Flügel, gleich der Fledermaus;
Ihr Bauch erhebet sich auf gelben Hahnenfüßen
Und zeigt der schauernden Natur
Den grassen Basilisk. Mit höllischem Vergnügen
Schaut Satan auf sein Werk. Die neue Kreatur
Versucht es bald zu gehen, bald zu fliegen,
Und zischt den Rächer aus. Itzt bleibt ihr trunkner Blick
Auf einem klaren Bache kleben:
Sie sieht ihr Bild und fährt zurück
Und haucht bereits ihr junges Leben
In ihres Schöpfers Hand. Allein der alte Wicht
Faßt lachend sie beym Kamm: »was soll das dumme Beben,
Gefällst du dir im neuen Schmucke nicht?«
Der Basilisk erwacht: »vergieb mir meinen Schrecken,
Mein blöder Geist war nicht darauf gefaßt,
Im Körper, den du mir gegeben hast,
So manchen Zug des Deinen zu entdecken.«
Ey nun, ich mach es wie mein Feind
Dort oben in dem Sterngefilde,
Versetzt der Schalk: ich schaffe meinen Freund –
Nach meinem Ebenbilde.

Gottlieb Konrad Pfeffel
aus: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil
Band 2, Tübingen 1802

Freitag, 30. Oktober 2009

Die Papier- und Kupfermünze


Als einst, auf einem Wechslertisch,
Zu Kupferpfennigen ein Wisch
Papierne Lumpenmünze kam,
Sprach diese, mit empfundner Schaam,
Zum Kupfergelde: Wie verwegen!
Du Bettelvolk erkühnest dich,
Zur Rechten gar, dich neben mich
Trotz meinem höhern Stand zu legen?

Halt ein, versetzt ein Kupferstück,
Mir deine Würden vorzuloben!
Wer hat dich in den Stand erhoben,
Als blindes, unverdientes Glück?
Aus Bettlerlappen nur entsprungen,
ist gleichen Werths dein Korn und Schrot,
Und zu des Vaterlandes Noth,
ist dir der kühne Schritt gelungen:
Jedoch, versuch es außer Land!
Was giltst du dort? Um einen Dreyer
Wärst du, dem Pfunde nach, zu theuer;
Ich aber werd’ in jeder Hand
Den Werth, der innern Würde tragen.
Dich setzt, vielleicht in wenig Tagen,
Des Stempelherrn erlauchter Schluß,
Gefällt es ihm dich zu verschlagen,
Herunter bis zum - Fidibus.
-
Die ihr euch selbst um Titel grämet,
Und nach des Titels schalem Ton
Den Werth des Mannes schätzt - o nehmet
Zu Herzen dieses Lection!

Johann Friedrich Schlez, 1787

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Johann Friedrich Ferdinand Schlez

Bildquelle: Wikipedia
aus: »Gregorius Schlaghart und Lorenz Richard oder:
Die Dorfschulen zu Langenhausen und Traubenheim«

Bildunterschrift: Lacht ihn brav aus!

geboren am 27.6.1759 zu Ippesheim (Bayern), gestorben am 7.9.1839 zu Schlitz in Oberhessen. Der Vater war Pfarrer und gab dem Sohn den ersten Unterricht. Ab 1773 besuchte er als Chorschüler das Gymnasium zu Windsheim bis 1776. Weiterführenden Unterricht erhielt er von dem Pfarrer Vatchewitz aus Herrenbergtheim. In Jena studierte er von 1778 - 81 Theologie. Danach kehrte er ins Elternhaus zurück, übernahm die Stelle eines Hilfsgeistlichen und wurde nach dem Tod des Vaters sein Amtsnachfolger. 1793 heiratete er Johanna Bauer, die Tochter des Hofpredigers und Consistorialrathes Bauer in Castell. Neben seiner Pfarrerstätigkeit widmete er sich auch der Schul- und Volksbildung. Er schrieb kritische Schriften zur damaligen Schuldbildung (Gregorius Schlaghart und Lorenz Richard oder die Dorfschule zu Langenhausen und Traubenheim, ein Erbauungsbuch für Landschullehrer, 1795) und wurde deshalb 1799 als Inspector und Consistorialrath nach Schlitz berufen. Schlez kümmerte sich um eine bessere Ausbildung der Lehrer, sorgte aber auch für eine Verbesserung der ökonomischen Bedingungen der Lehrkräfte. Darüber hinaus widmete er sich dem Unterricht, sorgte für bessere Räume, Lehrmittel und schrieb Schulbücher. Neben dieser fachlichen Schriftstellertätigkeit schrieb Schlez auch Fabeln, Parabeln, Geschichten und Gedichte und wurde zu einem in seiner Zeit bekannten Jugend- und Volksschriftsteller. 1787 erschien eine Fabel-, 1802 eine Parabelsammlung. Am 27.11.1831 verlieh ihm der Großherzog von Hessen das Ritterkreuz des großherzogl. Ludwigsordens und die Gießener theol. Facultät die Doktorwürde.

Horst-Dieter Radke

Mittwoch, 28. Oktober 2009

Nicht darum, weil du Fabulist …

Geweiht
Dir, bester Gleim, zu Ehren,
Nicht darum, weil du Fabulist,
Nein, weil du, was viel größer ist,
Das selbst, was deine Fabeln lehren,
Ein Menschenfreund, ein Weiser bist.

Johann Ferdinand Schlez
Widmung in seinem Buch:
Fabeln und Sinngedichte
Marktbreit, 1787

Dienstag, 27. Oktober 2009

Der Kiesel und das Samenkorn


Neben einem Kiesel lag tief in der Erde ein Weizenkorn, und schien schon gänzlich vernichtet zu seyn, als ein schöner Keim und bald darauf ein noch schönerer Halm aus ihm aufschoßte. »Wie ist das möglich?« rief der Kiesel verwunderungsvoll: »Du in meinen Gedanken schon ganz Verwester, lebst mit neuer Jugendkraft wieder auf? Ich hingegen, bin ich einmal zerknirscht, habe alsdann auch meine Kräfte verloren für immer!«

Der gewöhnliche Unterschied der störrischen und sanftmüthigen Geschöpfe, versetzte das Samenkorn. Jenes widersteht länger einer Gefährlichkeit: aber unterliegt es ihr ein Mahl; so unterliegt es auf ewig. Der Sanftmüthige dauert gelassen die Stunde der Prüfung aus, und tritt, wen sie vorüber, oft mit verstärktem Glanze hervor.

August Gottlieb Meißner
Fabeln, 1813

Sonntag, 25. Oktober 2009

... als man vom Einhorn erzählt


Weiter ausgebildet ward die Allegorie, als man vom Einhorn erzählte: es könne nur eingefangen werden, wenn eine reine Jungfrau ihm ihren Schoos öffne; dann komme es, lege sein Haupt in derselb Schooß, schlafe ein, und werde auf diese Art die Beute der Jäger. Diese Fabel, die Gregorius verwirft, weil er sie vom Rhinozeros erzählen hörte, berichtet der Erzbischof von Sevilla ganz treuherzig. Und so ward denn das Einhorn ein Bild Christi; die Jungfrau ward die heilige Jungfrau, und das Ganze ein Symbol der Menschwerdung unsers Herrn. In der Folgezeit ging es in die Wappen der adelichen Familien über, und ward sogar einer der Schildhalter des Schottischen, und nach der Vereinigung dieses Reichs mit England, des Großbritannischen Wappens: denn man war mit einem religiösen Sinne des Bildes nicht befriedigt, zog die dem Einhorn nachgerühmte Stärke und Tapferkeit mit hinzu, und liß solchergestalt das Einhorn ein Bild aller kriegerischen und sittlichen Tugenden werden.

Sinnbilder und Kunstvorstellungen der alten Christen
Dr. Friedrich Münter
Bischof von Seeland, Königich Dänischem Ordensbischof, Professor der Theologie auf der Universität zu Kopenhagen, Großkreuz des Danebrogordens und Danebrogsmann.
Altona 1825

Samstag, 24. Oktober 2009

Die goldene Wundernachtigal

Eins der beliebtesten Sujets der armenischen Märchen ist die »goldene Wundernachtigall«, die dem »Glutvogel« der russischen Märchen entspricht. Mit ihm sind viele interessante Episoden verknüpft, die dem Märchen eine gewisse Verschiedenartigkeit verleihen.
Das deutsche Märchen vom »goldenen Vogel« ist den Armeniern ebenso bekannt wie den Russen. In der armenischen Abfassung kommt der Held ebenso wie in der deutschen und russischen zu einer Hexe, die, nachdem sie die Anwesenheit eines Menschen gewahr geworden, ausruft: »Pfui, hier riecht es nach Menschenfleisch!« ein typischer Ausruf, der bei den Russen etwas verändert vorkommt, sich aber in den deutschen und romanischen Märchen wörtlich wiederholt. In diesen und jenen überlistet der Mensch die Hexe, die um jeden Preis Menschenfleisch kosten wollte. – Wenn die armenischen Märchen schon in solchen Einzelheiten den deutschen und russischen gleichen, so ist es um so weniger zu verwundern, dass bei den Armeniern dieselben Märchen zu finden sind, die bei anderen indoeuropäischen Völkern vorkommen und Gegenstände behandeln, die das Hauptzubehör der meisten Märchen bilden, wie das Blitzschwert, der Zauberteppich, die unsichtbare Mütze u.s.w.

Chalatianz, Grikor
aus: Märchen und Sagen
Leipzig, 1887, S. XX-XXI

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Hanuman

… Dieses Affengeschlecht ist im ganzen Orient bekannt als – die Völker um Tibet, deren König Hanuman, im Ramayana der Inder als Fürst der Schneegebirge (Himalaya), als Affenfürst von rothbrauner Farbe, den Ramas auf seinem Zuge gegen Ceylon begleitet, und mit allen Attributen der höheren Gottheit, mit zehn Händen gebildet wird, in denen er sogar den Berg trägt, welchen er mit der Wurzel aushob, um dem verwundeten Ramas durch einige Kräuter schleunig Hülfe zu bringen …

aus einer Rezension über:
Ueber die Abkunft der Slaven,
nach Lorenz Surowiecki,
von Paul Joseph Schaffarik.
Ofen (mit königl. ungr. Universitäts-Schriften), 1828
in: Jahrbücher der Literatur
Drey und sechzigster Band, 1833, S.159

Dienstag, 20. Oktober 2009

Geschichte vom Brahmanen, der um eine Ziege geprellt wurde


Eines Tages ging der Brahmane Mitrascharman, der von Mitra Gesegnete, dessen Aufgabe es war, das heilige Opferfeuer zu pflegen, in ein Dorf um ein Tier zu holen. Er sprach einen Mann an, der für häufige Opfer bekannt war und sagte: »Bald ist Neumond. Gib mir ein Tier und ich werde ein Opfer für dich vollziehen«. Daraufhin gab der Mann ihm eine fette Ziege. Der Brahmane erkannte sie als tauglich an, nahm sie auf die Schulter und machte sich auf den Heimweg.

Unterwegs begegneten ihm drei Schelme, die vom Hunger schon ausgezehrt waren. Sie sahen das fette Tier und beschlossen, es dem Brahmanen durch List abzunehmen. Einer von Ihnen trat dem Brahmanen aus einem Seitenweg entgegen und sprach: »He, du Feueropferer. Du willst einen Hund opfern? Dieses Tier gilt als unrein.« Der Brahmane antwortete verärgert: »Bist du blind, dass du eine Ziege mit einem Hund verwechselst?« »Schon gut«, sagte der Mann. »Du musst dich nicht gleich aufregen«.

Der Brahmane war nur ein kleines Stück weiter gegangen, als ihm der zweite Schelm begegnete. »Ach du armer Mann, ich bedauere dich. Sicher ist dir das tote Kind liebe gewesen, dass du es auf die Schulter nimmst und dich dadurch verunreinigst. Fünf Kühe oder schweres Fasten wird nötig sein, dich wieder zu reinigen«. »Bist du nicht ganz gescheit«, rief der Brahmane verärgert. »Hältst du jetzt schon eine Ziege für ein totes Kind?« »Nicht böse werden«, sagte der Mann. »Ich habe es aus Unwissenheit gesagt«.

Ein paar Schritte weiter begegnete dem Brahmanen der Dritte. »Das gehört sich aber nicht, dass du einen Esel auf den Schultern trägst« sagte dieser zum Brahmanen. »Wirf ihn ab, du verunreinigst dich schwer.« Da glaubte der Brahmane, das Tier sei ein böser Geist. Er warf die Ziege voller Angst zu Boden und lief, dass er nach Hause kam. Nun kamen die drei Schelme herbei, nahmen das Tier und stillten damit ihren Hunger.

Kluge, scharfsinnige und verschlagene Menschen täuschen die Hohen und Mächtigen wie die Ziegendiebe den Brahmanen.

Fabel aus dem Pantschatantra
Nacherzählt von Horst-Dieter Radke

Montag, 19. Oktober 2009

Der gierige Hund


Eine Fabel der Altajer und Teleuten

Ein Hund hielt mit den Zähnen Fleisch. Als er nun auf einem Baumstamme über einen Fluss ging, sah er im Wasser einen Hund gehen, der gleich ihm ein Stück Fleisch im Maule hatte. Da unseres Hundes beide Augen gierig waren, so sprang er ins Wasser, um jenem das Fleisch wegzunehmen. Als er aber seinen Mund aufmachte, fiel das Fleisch heraus und wurde vom Wasser fortgeführt. Er selbst rettete sich mit Mühe.

Wenn du gierig bist, verlierst du das auch, was dein eigen ist.

Seidel, A. (Hg.)
Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur
Weimar, 1898

Samstag, 17. Oktober 2009

Die beiden Frösche


Eine japanische Fabel

Es waren einmal zwei Frösche, von denen der eine ganz nahe bei der Küstenstadt Osaka in einem Graben, der andere dicht bei der schönen Hauptstadt Kioto in einem klaren Bache wohnte. Beide kamen auf den Gedanken, eine Reise zu machen, und zwar wollte der Frosch, der in Kioto wohnte, sich einmal Osaka ansehen, und der andere, der in Osaka wohnte, hatte Sehnsucht, die Kaiserstadt, Kioto, wo der Mikado residierte, zu besuchen.

Ohne dass, sie sich kannten oder auch nur von einander gehört hatten, machten sie sich daher beide zu derselben Stunde auf den Weg und begannen ihre mühsame Wanderung. Die Reise ging nur langsam von statten, denn ein Berg, dessen Höhe die Hälfte des Weges war, musste überschritten werden, und diesen Berg zu erklimmen, war für die Frösche ein mühsames Stück Arbeit. Doch endlich war die Spitze erreicht, und siehe da, beide trafen sich, glotzten sich im ersten Augenblick einander an und fingen dann an, sich zu unterhalten. Als nun einer dem andern den Beweggrund seiner Reise mitteilte, da lachten sie beide vor Vergnügen, setzten sich zusammen in das hohe Gras und beschlossen, erst ein wenig auszuruhen, ehe sie sich trennten.

»Wenn wir nur grössere Tiere wären«, sprach der eine, »dann könnten wir von hieraus beide Städte sehen und könnten schon jetzt beurteilen, ob es sich der Mühe verlohnt, noch weiter zu wandern.« »O, dem ist abzuhelfen,« entgegnete der zweite, »wenn wir das Ziel unserer Reise von hier aus sehen wollen, so können wir uns aneinander aufrichten, und jeder blickt nach der Stadt hin, die er noch nicht kennt.« Dieser Vorschlag leuchtete dem andern Frosche gewaltig ein, und gesagt, gethan, die beiden kleinen Kerlchen stellten sich auf ihre langen Hinterfüsse und hielten sich mit den Armen umschlungen, damit sie nicht umfielen. Der Frosch, welcher aus Kioto kam, richtete seine Nase nach Osaka zu, und der, welcher aus Osaka kam, wandte die seine nach Kioto. Und so standen sie da, ganz steif, still und versunken in ihre Betrachtungen. Nun hatten die dummen Frösche aber garnicht bedacht, dass ihre grossen Augen, wenn sie den Kopf so hoch in die Luft reckten, wie sie es thaten, auf dem Rücken lagen und nach rückwärts blickten, und dass sie daher beide ihre eigene Heimat und die Stadt, von der sie ausgezogen waren, zu Gesicht bekamen.

»Ach, was sehe ich?« rief der eine Frosch aus Osaka, »was sehe ich? Kioto sieht ganz so aus, wie Osaka; ich kann mir den Weg dahin ersparen!« Und ganz dasselbe sagte der Frosch aus Kioto, und wie beide zu dieser Erkenntnis gekommen waren, da liessen sie einander los, und plumps! fielen sie in das Gras. Dann machten sich die beiden Frösche eine Verbeugung, sagten einander Lebewohl und wanderten heim. Bis an ihr Lebensende haben sie geglaubt, dass die Städte Kioto und Osaka, die doch so grundverschieden sind, einander so ähnlich wären, wie ein Ei dem andern, und nie haben sie ihren Irrtum, der aus ihrer Dummheit entsprang, eingesehen.


Seidel, A. (Hg.):
Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur
Weimar, 1898

Freitag, 16. Oktober 2009

Das Nilpferd

Eine Raupe legte sich einmal – Abwechslung ist gut, dachte sie – zu ihrer Einpuppung in die Haut eines Nilpferdes. Was da geschah, weiß man nicht, und es wird auch niemals erforscht werden, aber statt eines ganzen Schmetterlings krochen nur ein paar große, herrliche Schmetterlingsflügel aus; sie hatten einen purpurnen Saum und bewegten sich zierlich beim geringsten Luftzug und schimmerten im Sonnenschein wie Kolibrigefieder. Ein anderes Nilpferd bemerkte die seltsame Erscheinung auf dem Rücken des Genossen und sagte: „Du hast ja Flügel.“

„Was dir einfällt,“ erwiderte das Nilpferd und ging weiter. Aber nun begegnete es einer Nilpferddame, der es schon längst zu gefallen wünschte. Die sah es so freundlich an wie noch nie und sagte:

„Ei der Tausend, Sie haben Flügel, wirklich, die reizendsten Flügel, die ich in meinem Leben gesehen habe.“

Da war das Nilpferd wie berauscht, dachte aber im stillen: wenn nur ich etwas von meinen Flügeln wüßte. Es dachte auch: Hab’ ich sie, dann muß ich fliegen können, und ging tief hinein in den Wald und machte dort eine große Anzahl Flugversuche. Alle mißlangen. Ganz enttäuscht und traurig kehrte das Nilpferd zu den Genossen zurück. Sie empfingen es mit dem einstimmigen Rufe:

„Du hast Flügel, du hast Flügel, du kannst ganz gewiß fliegen!“

Und als es eine zweifelnde Miene machte, riefen die andern: „Versuch’ es nur, es muß gehen; o, wenn du doch einen Versuch machen wolltest!“

Das Nilpferd war zu eitel um zu gestehen, daß es den Versuch schon gemacht hatte, und daß es nicht geraten war. So erwiderte es denn mit Wichtigkeit:

„Resultate, nicht Versuche gehören vor das Publikum.“

Und als am nächsten Tage die Kameraden fragten:

„Nun, du Beflügelter, bist du geflogen?“ da erwiderte es:

„Freilich, so eine Spritzfahrt nach Zanzibar hinüber habe ich unternommen.“

O, wie staunten sie ihn an, wie bewunderten und beneideten sie ihn, den Adler unter den Nilpferden! Er fing an sehr krittlich zu werden in der Beurteilung der Flüge der Vögel, zwinkerte zu ihnen hinauf und sagte:

„Pah, wenn ich wollte, wie ganz anders würde ich das machen.“

Seine Anhänger wiederholten: „Pah, wenn er wollte, da würden wir was erleben.“

Eines Tages geschah’s, daß ihm der Wind seine Flügel wegblies. Ein Freund bemerkte es und rief ihn an:

„Wo sind deine Flügel? du hast keine Flügel mehr.“

Er erschrak tödlich, faßte sich aber sogleich und sagte: „Ich habe sie abgelegt; ich will nichts voraus haben vor meinen Brüdern.“

Nun wurde er erst recht angestaunt. Diese That hochherzigster Bescheidenheit erntete Lob und Preis, und bis an sein Ende mehrten sich seine Ehren. Und heute noch lebt er als Phönix in der Geschichte und in der Dichtung der Nilpferde unsterblich fort.

Marie von Ebner-Eschenbach
aus: Die Frau, 1897
Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit

Donnerstag, 15. Oktober 2009

Schildkröte im Brunnen


Eine mongolische Fabel

Eine Schildkröte lebte in eitlem Brunnen. Eine andere Schildkröte, deren Heimath der Ocean war, fiel aus ihren Ausflügen ins Innere des Landes zufällig in diesen Brunnen. Die Schildkröte fragte nun ihren neuen Kameraden, woher er käme.

»Aus dem Meere.«

Da sie vom Meere sprechen hörte, schwamm die Brunnenschildkröte ein wenig im Kreise herum und fragte: »Ist das Wasser des Oceans so groß wie dieses?«


»Größer!« entgegnete die Seeschildkröte.


Die Brunnenschildkröte schwamm alsdann zwei Drittel des ganzen Brunnenumfanges ab und fragte, ob der Ocean so groß sei.


»Viel größer!« sagte die Seeschildkröte.


»Nun denn,« sagte die Brunnenschildkröte, »ist der Ocean so groß, wie der ganze Brunnen?


»Größer!« sagte die Seeschildkröte.


»Wenn das wahr ist«, sagte die andere »Wie groß ist denn dann der Ocean?«


Die Seeschildkröte erwiderte: »Da du noch nie ein anderes Gewässer als das deines Brunnens gesehen hast, so ist dein Begriffsvermögen sehr gering. Was den Ocean anbetrifft, so könntest du ihn niemals, selbst wenn du viele Jahre darin zubrächtest, auch nur zur Hälfte ergründen, noch auch seine Grenzen erreichen, und es ist durchaus unmöglich, ihn mit diesem deinen Brunnen zu vergleichen.«


Die Schildkröte entgegnete: »Es ist unmöglich, daß es ein größeres Gewässer als diesen Brunnen giebt, du willst nur deinen Geburtsort mit eitlen Worten herausstreichen.«


Moral: Leute voll geringer Bildung, die sich von dem geistigen Horizont hochbefähigter Menschen keinen Begriff machen können und sich ihres Willens und ihrer Talente rühmen, gleichen der Schildkröte im Brunnen.


Dr. U.
aus: Die Gartenlaube, 1891

Dienstag, 13. Oktober 2009

Schlange, Kröte und der Pfirsich



Nach einem koreanischem Volksglauben ist ein Pfirsich das beste Mittel gegen Nikotinvergiftung.


Kröten haben vor Schlangen Angst und führen immer ein wenig Tabak mit sich. Sie wissen, wenn Schlangen Tabak fressen und in einen Pfirsich beißen, hilft denen das nicht, das hilft nur bei Kröten. Das wissen auch die Schlangen nur zu gut.

Eines Tages sah eine Kröte auf ihren Weg nachhause ein Schlange kommen. Unglücklicherweise hatte sie keinen Tabakrest dabei. Schnell griff sie nach einem Pfirsich und fing an den zu verspeisen. Die Schlange blieb stehen und sah der Kröte erstaunt zu.
»Ja, ja« sagte die Kröte zu ihrer Todfeindin, »heute war ich unvernünftig und habe zuviel Tabakreste gegessen. Jetzt muss ich unbedingt etwas für meine Gesundheit tun.«

»Ihr Kröten seid so dumm,« sagte die Schlange, rümpfte die Nase und verschwand.

Koreanische Fabel
nacherzählt von Amos Ruwwe

Montag, 12. Oktober 2009

Drei und dreißigste Fabel: Die beiden Lügner


»In Japan« - sagte ein junger Herr, der so eben von Reisen kam: - »In Japan hat man Äpfel, wie der Tisch so groß.« - »Was sagen Sie?« - fiel sein Nachbar ein: »In Kamtschatka hat man Töpfe, wie jene Kirche dort.« - »Das ist nicht möglich!« - sagte der erste. - »Warum nicht? Um ihre Äpfel darin zu kochen!«

»Wir gehen nach Paris!« - sagten die Alliirten. - »Wir kommen nach London!« - prahlten die Franzosen.

Christian August Fischer
Politische Fabeln
Königsberg, 1796

Sonntag, 11. Oktober 2009

Der eigennützige Sperling und die obdachlose Krähe


Ein Sperlingsweibchen erbaute sich einst ein kleines nettes Haus, polsterte es mit Wolle aus, umhegte es mit Stäben, so daß es nicht allein der Sonne im Sommer, sondern auch dem Regen im Winter Widerstand leistete. Eine nebenanwohnende Krähe hatte sich ebenfalls ein Haus gebaut, das war aber nicht so gut, – es war nur aus ein paar Stöckern gemacht, die auf einer stachlichen Birnenhecke lagen. Die Folge davon war, daß das Nest eines Tages von einem ungewöhnlich heftigen Regenschauer fortgeschwemmt wurde, während das des Sperlings unversehrt blieb.

In dieser äußersten Noth gingen die Krähe und ihr Gefährte zum Sperlingsweibchen und sprachen: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, gieb uns Obdach, denn der Wind heult, der Regen strömt her nieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Das Sperlingsweibchen aber antwortete: »Ich koche gerade mein Essen, ich kann Euch jetzt nicht einlassen. Kommt nachher wieder.« Nach einer kleinen Weile kehrten die Krähen zurück und sprachen: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, und gieb uns Obdach. Der Wind heult, der Regen strömt hernieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Der Sperling antwortete: »Ich verzehre gerade mein Mittagsmahl, ich kann Euch jetzt nicht einlassen, kommt ein andermal wieder.« Die Krähen flogen fort, kehrten aber nach einer kurzen Zeit zurück und riefen abermals: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, gieb uns Obdach; denn der Wind heult, der Regen strömt hernieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Der Sperling entgegnete: »Ich wasche gerade meine Schüsseln auf. Ich kann Euch jetzt nicht hereinlassen, kommt nachher wieder.« Die Krähen warteten ein Weilchen, dann riefen sie aus: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, und gieb uns Obdach, denn der Wind heult, der Regen strömt hernieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Das Sperlingsweibchen aber hatte keine Lust sie einzulassen, sondern erwiderte nur: »Ich fege gerade den Fußboden ab, ich kann Euch jetzt nicht hereinlassen. Kommt nachher wieder.« Als die Krähen das nächste Mal wieder kamen und schrieen: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns und gieb uns Obdach; denn der Wind heult, und der Regen strömt hernieder, und die Dornen der stachlichten Birnenhecke stechen uns in die Augen«, antwortete sie: »Ich mache gerade mein Bett, ich kann Euch jetzt nicht einlassen, kommt nachher wieder.«

So suchte sie einen Vorwand nach dem andern und weigerte sich den armen Vögeln zu helfen. Und als sie schließlich mit ihren Jungen das Mittagsessen verzehrt hatte, und das Essen für den folgenden Tag bereit stand, alle Kinder zur Ruhe gebracht und sie selbst zu Bett gegangen war, da rief sie den Krähen zu: »Jetzt könnt Ihr hereinkommen und die Nacht über bleiben.« Die Krähen kamen herein, doch waren sie sehr verstimmt, weil sie so lange im Wind und Regen hatten stehen müssen. Und als das Sperlingsweibchen und ihre Familie schlief, sprachen sie untereinander: »Diese eigennützige Sperlingsfrau hatte kein Mitleid mit uns. Sie hat uns keinen Bissen Essen angeboten und ließ uns erst dann herein, als sie mit sammt ihren Kindern behaglich im Bette lag. Wir wollen sie bestrafen.« Nun nahmen die Krähen all das gute Essen, das die Sperlingsfrau sich und ihren Kinder für den anderen Tag gemacht hatte, und flogen damit fort.

Frere, M.
Märchen aus der indischen Vergangenheit
Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien
Jena, 1874

Samstag, 10. Oktober 2009

Der Affe und sein Herr

Ein reicher Herr war einst in den Besitz eines sehr zahmen Affen gekommen. Derselbe war willig und gutmüthig, aber nicht sehr gescheidt und mitunter auch recht faul. Sein Herr, der seine guten und schlechten Eigenschaften am besten kannte, verwandte ihn zu allerlei Arbeiten, und wenn der Affe ihm nicht recht folgsam war, so nahm der Herr oft zur List seine Zuflucht. Eines Tages hatte er dem Affen, wenn er fleißig sein und willig arbeiten wollte, zur Belohnung jeden Morgen drei und jeden Abend vier Pfirsiche versprochen. Der Affe, der ungemein gern Pfirsiche aß, freute sich sehr über die Aussicht, täglich eine so große Anzahl zu erhalten, und arbeitete sehr brav. Aber als einige Tage vergangen waren, versäumte er wieder viel Zeit und war der Arbeit müde. Der Herr bemerkte dies sogleich und sprach zum Affen: »Ich will deinen Lohn erhöhen, du sollst eine Pfirsiche mehr haben. Von jetzt an bekommst du Morgens vier und Abends drei Pfirsiche!« Der Affe freute sich sehr über die vermeintliche Zulage und arbeitete nun aufs neue zur Zufriedenheit seines Herren.

Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, 1885

Freitag, 9. Oktober 2009

Die Seeschnecke


In Japan giebt es eine Art Seeschnecke, mit sehr dicker Schale und starken, langen Buckeln ringsum und mit einem festen Deckel, der ihr Gehäuse völlig zu schließen vermag. Die Japaner nennen sie Sazaye.

Eine solche Schnecke lag einst wohlgemuth auf dem Meeresgrunde, und da kam ein rother Meerbrasse, ein Tai, angeschwommen und sagte zu ihr: »Wie glücklich bist du doch, in einem so festen Hause zu wohnen! Niemand kann dir etwas anhaben, während wir Fische tausend Fährlichkeiten ausgesetzt sind!« Das hörten noch andere Fische, und alle gaben dem Tai recht. Die Seeschnecke meinte auch, daß dem so sei, und wurde sofort über das ihr gespendete Lob sehr hochmüthig. Ruhmredig pries sie ihre starke Schale und brüstete sich nicht wenig den anderen Thieren im Meere gegenüber. Aber während sie noch so prahlte, vernahm man plötzlich ein unheimliches Plätschern; ängstlich suchten alle Fische das Weite, die Schnecke aber, die nicht so flink war, blieb an Ort und Stelle und schloß nur ihren Deckel. So meinte sie, aller Gefahr enthoben zu sein. Nach einer Weile fühlte sie eine unruhige Bewegung; dann aber ward alles still, und vorsichtig öffnete sie ihren Deckel. Aber ach, wo war sie nun? Nicht mehr im Meere, auf einer platten Tafel lag sie mit mehreren ihres gleichen, und zwischen ihnen stak ein Holzbrettchen mit einigen Schriftzeichen darauf. Sie befand sich in einem Fischladen, und auf dem Brettchen war der Preis verzeichnet, den der Händler für sie verlangte. Davon ahnte sie freilich nichts, aber ängstlich harrte sie doch der Dinge, die noch über sie ergehen sollten.

Und bald kam es auch noch schlimmer; ein Kuli trat herzu, las die Zeichen auf jenem Brettchen, erstand sie und kochte sie sich zum Abendessen. So nahm sie trotz ihres Hochmuthes und ihrer geträumten Sicherheit ein gar klägliches Ende.


Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, 1885

Donnerstag, 8. Oktober 2009

Rainer Maria Rilke: Gedichte

Eine Rezension

Der Fuchs mit dem abgehauenen Schwanz


Ein besonders diebischer Fuchs, welcher einer grösseren Kolonie von Füchsen angehörte, wurde eines Tages bei einem Diebstahl von dem Hausherrn ertappt. Letzterer holte in aller Eile ein Messer herbei und hackte ihm den Schwanz ab. Darauf liess er ihn laufen. Der Fuchs lief unter grimmigen Schmerzen zurück in die Berge zu den anderen Füchsen. Als die Füchse sahen, dass ihm der Schwanz fehlte, fragten sie ihn, wo er ihn gelassen habe. Da antwortete er und sprach: »Es ist jetzt wieder eine neue Mode aufgekommen. Einen Schwanz zu haben, ist jetzt nicht Mode; keinen Schwanz zu haben, das ist das Neuste. Deshalb habe ich mir selbst den Schwanz abgeschnitten, um mich mit Ehren sehen lassen zu können«.

Arendt, C.
aus: Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke
In: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang (1891), S. 334

Mittwoch, 7. Oktober 2009

Einzigartig




Eine alte Maulwurfsmutter wollte ihren einzigen Sohn verheiraten. Nicht an irgendeine, die Braut sollte einzigartig sein. Nach langer Überlegung ging sie zur Sonne. »Du bist einzigartig und so mächtig. Willst Du meinen Sohn heiraten?« fragte sie. Die Sonne war höflich und wollte nicht sagen, dass sie keinen Maulwurf heiraten würde. So sagte sie: »Mächtiger und einzigartiger sind die Wolken. Wenn sie aufziehen, werde ich verdeckt und niemand sieht mich mehr.« Die Maulwurfsmutter sah das ein und ging zu den Wolken und fragte erneut. »Ich bin zwar mächtig, aber der Wind ist mächtiger als ich«, sagte die Wolke. »Sobald er kommt bläst er mich hin wo er es will.« Weiter ging die Mutter und als sie den Wind fragte, antwortete dieser: »Mächtig bin ich, das ist wahr. Auf der Erde aber stehen die Grabsteine so fest, dass ich blasen kann so stark ich es vermag, umwerfen kann ich die jedoch nicht. Die Steine sind mächtiger als ich.« Seufzend ging die Mutter zu den Grabsteinen. »Dein Ansinnen freut mich,« sagte ein Grabstein. »Natürlich sind wir stärker als der Wind, er kann uns nichts anhaben. Es sind die Maulwürfe, deinesgleichen, die uns Kummer bereiten. Tag und Nacht grabt ihr unter unseren Füßen. Wenn das so weiter geht, werden wir eines Tages umfallen. Ihr seid die Stärksten und einzigartig obendrein, wenn ihr uns, die sonst niemand zum wanken bringen, Sorgen bereitet.«

Ein wenig enttäuscht war die Maulwurfsmutter, als sie das hörte, aber auch ein bisschen stolz. Sonne, Wolke, Wind und Grabsteine, sie alle waren den Maulwürfen nicht gewachsen. So heiratete ihr Sohn schließlich eine einzigartige Maulwurfstochter.

Oftmals liegt das Glück so nah. Um es aber zu erkennen braucht es manchmal einen langen Weg.

Koreanische Fabel
Nacherzählt von Amos Ruwwe

Dienstag, 6. Oktober 2009

Tibet

Zwischen den großen asiatischen Gebürgen und Wüsteneien hat sich ein geistliches Kaisertum errichtet, das in seiner Art wohl das einzige der Welt ist; es ist das große Gebiet der Lamas. Zwar ist die geistliche und weltliche Macht in kleinen Revolutionen bisweilen getrennt gewesen, zuletzt aber sind beide immer wieder vereinigt worden, so daß hier, wie nirgend anders, die ganze Verfassung des Landes auf dem kaiserlichen Hohepriestertum ruhet. Der große Lama wird nach der Lehre der Seelenwanderung vom Gott Schaka oder Fo belebt, der bei seinem Tode in den neuen Lama fährt und ihn zum Ebenbilde der Gottheit weihet. In festgesetzten Ordnungen der Heiligkeit zieht sich von ihm die Kette der Lamas herab, und man kann sich in Lehren, Gebräuchen und Einrichtungen kein festgestellteres Priesterregiment denken, als auf dieser Erdhöhe wirklich thronet. Der oberste Besorger weltlicher Geschäfte ist nur Statthalter des obersten Priesters, der, den Grundsätzen seiner Religion nach, voll göttlicher Ruhe in einem Palasttempel wohnet. Ungeheuer sind die Fabeln der lamaischen Weltschöpfung, grausam die gedroheten Strafen und Büßungen ihrer Sünden, aufs höchste unnatürlich der Zustand, zu welchem ihre Heiligkeit aufstrebt: er ist entkörperte Ruhe, abergläubische Gedankenlosigkeit und Klosterkeuschheit. Und dennoch ist kaum ein Götzendienst so weit als dieser auf der Erde verbreitet; nicht nur Tibet und Tangut, der größte Teil der Mongolen, die Mandschu, Kalkas, Eluthen u. f. verehrten den Lama; und wenn sich in neueren Zeiten einige von der Anbetung seiner Person losrissen, so ist doch ein Stückwerk von der Religion des Schaka das einzige, was diese Völker von Glauben und Gottesdienst haben. Aber auch südlich zieht sich diese Religion weit hin; die Namen Sommona-Kodom, Schaktscha-Tuba, Sangol-Muni, Schige-Muni, Buddha, Fo, Schekia sind alle eins mit Schaka, und so geht diese heilige Mönchslehre, wenngleich nicht überall mit der weitläuftigen Mythologie der Tibetaner, durch Indostan, Ceylon, Siam, Pegu, Tonkin bis nach Sina, Korea und Japan. Selbst in Sina sind Grundsätze des Fo der eigentliche Volksglaube; dagegen die Grundsätze Konfuzius' und Laotse nur Gattungen einer politischen Religion und Philosophie sind unter den obern, d.i. den gelehrten Ständen. Der Regierung daselbst ist jede dieser Religionen gleichgültig; ihre Sorge ist nicht weiter gegangen, als daß sie die Lamas und Bonzen dem Staat unschädlich zu machen, sie von der Herrschaft des Dalai-Lama trennte. Japan vollends ist lange Zeit ein halbes Tibet gewesen; der Dairi war der geistliche Oberherr und der Kubo sein weltlicher Diener, bis dieser die Herrschaft an sich riß und jenen zum bloßen Schatten machte: ein Schicksal, das im Lauf der Dinge liegt und gewiß einmal auch das Los des Lamas sein wird. Nur durch die Lage seines Reichs, durch die Barbarei der mongolischen Stämme, am meisten aber durch die Gnade des Kaisers in Sina ist er so lange, was er ist, geblieben.

Johann Gottfried Herder
aus: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Band 2

Montag, 5. Oktober 2009

Der frühe Ruhm dieser Indischen Fabeln

… Denn der frühe Ruhm dieser Indischen Fabeln in Persien, die Menge von Sittensprüchen in Versen aus den verschiedensten Dichterwerken den prosaischen Erzählungen eingeflochten beweisen, nach dem Urtheile eines Kenners das frühere Dasein einer reichen dichterischen Literatur, und jene antiken Fabel-Werke sind in Indien nur erst durch das jüngere Fabelbuch, das unter dem Namen des Hitopadesa bekannt ist, außer Umlauf gebracht. Auf demselben Wege sind die unterhaltenden Erzählungen, die unter den Namen der Sieben weisen Meister, der Tausend und eine Nacht u.a. über Persien und Arabien, als Uebersetzungen und Umarbeitungen (nach v. Hammer) mannigfaltigster Art, nur mit verändertem Schauplatz und historischen Namen, aber immer denselben Character und Inhalt beibehaltend, in jener Periode in die Literatur der Levante und der Westvölker übergingen, unstreitig Indischer Herkunft, so daß v. Schlegel z.B. bemerkte, man werde in den meisten Fällen im letztgenannten Werke nicht fehlen, statt des bei Arabern gefierten Namens Harun als Raschid, den des Indischen Vikramadityas … zu lesen. Daher dies in dieser mittelalterlichen Zeit mit der Indischen Literatur ging, wie im höhern Alterthum mit den Waaren; man hat die fremden Erzeugnisse lange genossen, ohne das Land zu kennen woher sie kamen. Hier wird es hinreichen, bei dem was schon oben über Weltstellung gesagt ist … , darauf hinzuweisen, daß es in derselben Zeit eben so mit den Wissenschaften ging, it Arithmetik, Algebra, Astronomie, Medicin, Chemie, worin Araber und Perser die Schüler der Indier waren, die Europäer wieder die der Araber wurden, wodurch der Gang einer merkwürdigen Tradition sich kund giebt, die zwischen dem wahren Orient und Occident der alten Welt, wenn auch getrennt, doch niemals ganz unterbrochen war. Wir wiederholen hier nur was von Andern schon bewiesen ist; das decimale System unserer Ziffern ist ganz Indisch, und die Araber sagen es ganz ohne Hehl, daß sie es von den Indiern gelernt ebenso die Algebra, und eins der drei Indischen Systeme der Astronomie, die vom Khalif Mansur (754 - 775) bis zur Zeit Mamuns (813 n. Chr. Geb.) bekannt wurden. Die zwölf Zeichen im Thierkreise bei Aegyptern, Chaldäern, Indiern gehen auf eine vorgeschichtliche Mittheilung unter den nachher sich fremd gewordenen Völkern zurück, oder auf die Herleitung aus einer gemeinsamen Quelle. Die Bearbeitung der Metalle und Steine muß in Indien uralt seyn, wenn auch keine Geschichte darüber Aufschluß giebt, wie sich die damit beschäftigten Künste weiter über die Erde verbreitet haben. außer dem Zinn, dessen wir oben gedachten, ist Indisches Eisen nach den römischen Pandecten zollbare Waare, bei Arabischen Dichtern ist das Schwert von Indischem Stahl (Mohannadon) wie bei Ktesias berühmt. Messing, eine Art Corinthisches Erz (im Sanskr. Kansasthi), schon dem Pseudo Aristoteles bekannt; die Verarbeitung des getriebenen Kupfers bei den Indischen Tempeln frühzeitig allgemein, und im Sanskritischen Namen des Schwefels liegt schon der Gebrauch desselben bei der Scheidung des Kupfers aus seinen Erzen, da er Sulvari im Sanskrit, d.i. Feind des Kupfers heißt, daher das lateinische Sulphur seinen Ursprung erhielt, und Blei in der Provinz Malwa oder Mulva gewonnen, heißt im Hindostanischen noch Mulva, woraus sein bedeutungsloser griechischer Name μόλνβος, μόλνβδος herzuleiten seyn mag. Malwa ist durch die vielen Metallidole seines großen Tempels berühmt, der im Jahre 1227 bei dessen erster Entdeckung und Eroberung von Udschyini (Ozene) zerstört ward. Auch in der Arzneiwissenschaft lernten Araber aus medicinischen Werken der Sanskrit-Literatur wie der Griechischen; Indische Heilverfahren in mancherlei Krankheiten haben sich weit über den Westen verbreitet, und die Kunst der Zubereitung der Arzneimittel, der Farbstoffe, der destillirten Getränke, der Essenzen, kurz der Chemie und vielerlei Gewerbearten, sind zugleich aus Indien in jenen Zeiten, wie die Waaren, mit nach Vorderasien und Süd-Europa übergegangen, ehe noch dieses Land durch Sultan Mahmud (997), Marco Polo (1290), Vasco de Gama (1498) und ihren Nachfolgern von neuem betreten wurde.

Carl Ritter
aus: Die Erdkunde von Asien
Band IV. Erste Abtheilung
Die indische Welt, Berlin 1835

Sonntag, 4. Oktober 2009

Fabel vom Frosch und der Larve der Cicade


Meine erste Fabel vom Frosch und der Larve der Cicade (welche, beiläufig gesagt, einem Mistkäfer bis zu einem gewissen Grade ähnlich sieht und daher auf Chinesisch mit demselben Wort wie letzterer bezeichnet wird) lautet folgendermassen:

Ein Frosch hatte mit der Larve einer Cicade Freundschaft geschlossen. Als aber der Sommer kam und es heiss wurde, warf die Larve ihre hässliche Hülle ab, verwandelte sich in eine Cicade und kroch hinauf in den Wipfel eines Baumes, woselbst sie unter munterem Flügelschlage ihren schrillen Gesang ertönen liess. Da fiel es plötzlich dem Frosch ein, er wolle doch seine Freundin einmal besuchen. Als er aber zur Wohnung der Larve gelangte, fand er sie nicht zu Hause. Er suchte sie wohl einen halben Tag lang, konnte sie aber nirgends finden, bis er sich endlich an der Wurzel eines Baumes niedersetzte, um sich an der frischen Kühle zu laben. Da plötzlich, als er seine Blicke in die Höhe richtete, sah er die Cicade, wie sie auf einem Baumzweige sass und ihren melodischen Gesang erschallen liess. Da rief er ihr zu: »Werte Freundin! Komm doch herab zu mir dich auszuruhen und mit mir zu plaudern!« Die Cicade aber kroch immer höher und kümmerte sich nicht um ihn. Da rief der Frosch zornig: »Ha! jetzt, wo du ein Gewand aus weisser Gaze angelegt hast, bist du stolz geworden und blickst auf deinen alten Freund hochmütig herab.«

Hier schliesst das Original. Die Hinzufügung eines Fabula docet ist im Chinesischen durchaus ungebräuchlich, auch bei den Kunstfabeln. Im Übrigen trägt die kleine Geschichte entschiedene Localfarbe: die Cicade ist eins der charakteristischesten Insekten des nördlichen China.

C. Arendt
aus: Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke
In: Zeitschrift für Volkskunde
1. Jahrgang (1891), S. 325-326

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Die 37. Fabel: Vom Fuchs, Hasen und Luchs


Es bgab sich einst umb die fasnacht,
Der fuchs seim son ein hochzeit macht,
Dieweil ern lang het laßen lern
Und in der hohen schul studiern,
Daß er in sachen vor dem rechten
Mit listen sich wol kunt verfechten.
So wust er sich alls dings zerinnern,
Sondrlich wenn er predigt den hünern.
Nam ein von seiner freundschaft nah,
Genant die schön Vulpecula.
Man nennt in herr licentiat;
Drumb er auch dest mer geste bat
Und schrieb derhalb auch allen tieren,
Daß sie kemen bei drein und vieren
Zu seines sones höchsten eren
Und mit den füchsen frölich weren.
Dahin ward auch der luchs betagt,
Dem hasen wards auch angesagt.
Die beide wonten bei einander,
Drumb woltens mit einander wander
Und zur hochzeit kommen bei parn,
Weil ir bhausung beinander warn.
Da sprach der luchs: »Hör, was ich sag,
Wir ziehen auf den hochzeittag,
Da uns der fuchs tet hin betagen:
Drumb wil ich dir mein meinung sagen.
Es ist jetzt ebn umb die fasnacht,
Daß jederman zeucht an die jagt
Und tun uns armen tiern nachstellen,
Mit iren hunden uns zu fellen.
Drumb sag ich dir, wenns dazu kem
Und uns das unglück undernem,
Daß an uns kemen mit den hunden
Und uns zu fahen understunden,
So müstest warlich nit verzagen
Und an die feind ein rüpflin wagen,
Auf daß wir uns gar weidlich weren:
So wölln wir bsten mit allen eren.«
Da sprach der has: »Wenn ichs nit tet,
Gar kleine er desselben het
Und wer des hofes groß unzucht,
Würd mir gerechnet zur feldflucht.
Drumb hab desselben keinen zweifel;
Ja, wern die hund auch halbe teufel,
So sollens doch an uns nit han,
Ich wil ir fünf allein bestan.
Das glob ich dir bei leib und leben;
Sihe da, wil dir mein hand drauf geben.«
Er sprach: »Ich wil mich drauf verlaßen.«
Sie zohen hin allbeid ir straßen
Die ganze nacht durch einen wald.
Am morgen frü kamen sie bald
Auf eine wisen lang und breit,
Da man sich kunt umbsehen weit.
Gleich in der mitten war ein rein
Und daselben ein hecken klein:
Da enthielt sich das mal ein jäger
Mit seinen hunden in dem läger,
Er ward gewar des luchs und hasen:
Er hetzt die hund, das horn tet blasen.
Da wurdens plützlich umberingt,
Ein jeder auf die tierlin springt.
Der luchs wert sich, so best er mucht;
Der has wendt sich und gab die flucht,
In reut gar bald der vorig kauf
Und steckt das hasen bannier auf,
Gab sich zu holz den berg hinan,
Mit not den hunden kaum entrann.
Da ward dem luchs sein haut zerbißen
Und so gar jemerlich zerrißen,
Daß er noch heut zu disen stunden
Hat die blutflecken und die wunden
Geheilet und verwunden nicht,
Wie man auch teglich an im sicht:
Wird im auch nimmer wider ganz.
Dazu ließ er den halben schwanz;
Zuletzt das leben rettet kaum,
Entfloh auf einen hohen baum,
Biß daß der jäger auch abzoch.
Der luchs saß lang und sahe im noch;
Darnach stieg auch vom baum ernider
Und auf den weg begab sich wider,
Kam noch den tag zum Reinhart fuchs.
Entpfieng herrlich denselben luchs
Und sprach: »Wie bistu so ganz flecket
Und überall dein haut so schecket?
Weiß nit, ists farb oder ist es blut?
Oder kleidst dich dem breutgam zgut?«
Der luchs erseufzt, hub an und sagt,
Gar kleglich übern hasen klagt,
Verzelt die gschicht von end zu ort.
Da sprach der fuchs: »Hast nie gehort:
Von anbegin das gschlecht der hasen
Mit iren ohmen, vettern, basen,
All ir vier ahnen und geschlecht
Han nie gehandelt billch und recht?
Weistu noch nit des hasen art?
Im ernst noch nie bestendig wart,
Wiewol sie schweren, vil geloben,
Das sie nit willn zu halten haben.
Drumb wil ich dir ein urteil sagen:
Das zeichen solt dein lebtag tragen,
Uber deinen balk die blutflecken,
Alln hasen zum ewigen schrecken,
Daß sie sich für dir förchten sollen.
Sie sein so stolz sie immer wollen,
Wenn sie das zeichen an dir sehen,
Sich erinnern, was sei geschehen,
Und wo du einen überkümst,
Daß du im bald das leben nimst,
Und er sich vor dir förchten muß:
Das sol sein aller hasen buß.«
Beim hasen merken wir die gsellen,
Die fünf und zwenzig fahen wöllen:
Wenns etwan sitzen bei dem wein,
Daselb die besten krieger sein
Mit fluchen, schweren, sein unfletig,
Gar vermeßen und rumretig;
Wenns aber zu dem treffen kümt,
Dann findt sichs, was sie han gerümt,
Erzeigt sich ir manlicher mut,
Bestet wie butter an der glut.

Burkard Waldis
Esopus.
Erster und zweiter Theil
Band 2, Leipzig 1882