Dienstag, 27. Oktober 2009

Der Kiesel und das Samenkorn


Neben einem Kiesel lag tief in der Erde ein Weizenkorn, und schien schon gänzlich vernichtet zu seyn, als ein schöner Keim und bald darauf ein noch schönerer Halm aus ihm aufschoßte. »Wie ist das möglich?« rief der Kiesel verwunderungsvoll: »Du in meinen Gedanken schon ganz Verwester, lebst mit neuer Jugendkraft wieder auf? Ich hingegen, bin ich einmal zerknirscht, habe alsdann auch meine Kräfte verloren für immer!«

Der gewöhnliche Unterschied der störrischen und sanftmüthigen Geschöpfe, versetzte das Samenkorn. Jenes widersteht länger einer Gefährlichkeit: aber unterliegt es ihr ein Mahl; so unterliegt es auf ewig. Der Sanftmüthige dauert gelassen die Stunde der Prüfung aus, und tritt, wen sie vorüber, oft mit verstärktem Glanze hervor.

August Gottlieb Meißner
Fabeln, 1813

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