Donnerstag, 9. Juli 2009

Die Mutter dieser holden Töchter …

Die Mutter dieser holden Töchter: Mythe, Sage, Märe und Fabel ist keine andere als die Poesie. Sie gebiert die Schaar ihrer mit einer Fülle von Lebenskraft und mit der Gabe proteischer Wandlung beglückten Kinder, denn aller Sage, aller Märe und aller Fabel eigenstes Wesen ist, daß sie Dichtung sei, und daß selbst die zu Sagen verklungenen geschichtlichen Stoffe durch Poesie verklärt, sich verjüngt haben müssen, falls sie Sagen heißen sollen. So war es schon in der antiken vorchristlichen Welt, welche zunächst den erfundenen, den erdichteten und dichterisch verherrlichten Stoffen jene Gesamtnamen gab, die in der deutschen Sprache das Bürgerrecht gewannen und nun für alle Zeiten Geltung behaupten, daraus wir ersehen, daß bei den Völkern der Ur- und Frühzeit die Begriffe dieser vier Worte, die wir unterscheiden, sich nicht sonderten, sondern in einen und denselben Begriff zusammenklangen.

Ludwig Bechstein
aus: Urzeitsagen (Gesammelte Werke, Bd.11)

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