Donnerstag, 11. Juni 2009

Der Schatten


Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt in seiner Parabel Der Schatten zum Dichter: »Sie wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie wissen nicht, wie manches Menschenglück Sie töten, wie manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den Blumengläsern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, daß wir Andern das leben, was Ihr Dichter schreibt. Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich, wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung. Die jungen Mädchen sind züchtig oder leichtfertig, wie es die Weiber sind, die Ihr verherrlicht.«

Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat einen weit größern, entweder schaffenden oder zerstörenden, reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere Psychologie behauptet, nämlich »Nicht Einzelwesen, Drama ist der Mensch«, so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt nur eine schaffende nennen.

Karl May
aus: Mein Leben und Streben

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