Montag, 23. März 2009

Die Frauen und das Geheimnis


Nichts wiegt wie ein Geheimnis schwer,
Drum können's Frauen nicht weit tragen.
Doch weiß ich auch von manchem Mann zu sagen:
Er gleicht darin den Frauen sehr.

Um seine zu erproben, rief ein Mann
Des Nachts an ihrer Seite: »Gott! Was fang ich an?
Ich kann nicht mehr – oh, es zerreißt mich fast!«
»Was denn?« »Ich muß ein Ei gebären!« »Wie, ein Ei?«
»Ja, welche Last!
Sieh her, wie frisch und neu!
Nur bitt ich dich, erzähl es nicht herum,
Denn daß man sagt, ich sei ein Huhn, ist mir zu dumm.«
Die junge Frau, der dieser Fall so neu
Wie manches andre von den Ehedingen,
Glaubt auch an diesen und verspricht zu schweigen.
Kaum aber kam der Tag herbei,
Da kann sie nicht mehr sich bezwingen,
Es brennt sie, aus dem Bett zu steigen
Und hinzugehn zur Nachbarin.
Sie sagt ihr: »Ach, Gevatterin,
Ach denkt nur, was geschehen!
Doch redet's nicht herum, sonst tät's mir schlecht ergehen.
Mein Mann hat heute Nacht
Ein Ei zur Welt gebracht,
Das ist so groß wie vier.
Nur bitt ich Euch, versprechet mir,
Daß Ihr darüber schweigt.«
»Wie wundersam!« sprach jene; »doch Ihr zeigt
Zu große Angst. Natürlich bin ich stumm.«
Die Frau des Eierlegers geht nach Haus.
Die andre klatscht natürlich gleich herum
Und trägt's nach zehn verschiednen Seiten aus.
Anstatt von einem Ei spricht sie von dreien.
Doch das schien nicht genug, denn schon die nächste Frau
Erzählt von vieren. Lüge will gedeihen.
So nimmt es keine sehr genau.
Die Zahl der Eier steigt und steigt,
Von Mund zu Munde wächst sie an –
Was Wunder dann,
Daß sie, als sich die Abendsonne neigt,
Bereits an hundert zeigt.

Jean de La Fontaine

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