Dienstag, 10. März 2009

Die echte Fabel


Die echte F. ist, wie Mythus und Märchen, ein Erzeugnis des Gesamtbewußtseins und reicht in Zeiten zurück, in denen eine primitiv volkstümliche Auffassungsweise herrscht und eine Trennung verschiedener Bildungsschichten noch nicht eingetreten ist. In der F. macht sich die-beseelende oder personifizierende Apperzeption (s. Ästhetische Apperzeptionsformen) geltend, die in dem primitiven Bewußtsein vorwaltet, und sie erstreckt sich insbes. auf die Tiere, die als Menschen oder menschengleiche Wesen angesehen werden. So ist die ursprüngliche F. Tierfabel; sie wird nach ihrem vermeintlichen Erfinder Äsopos auch die Äsopische F. genannt. Das didaktisch-reflektierende Element kommt in der Tierfabel um so leichter und deutlicher zum Ausdruck, als wir hergebrachtermaßen jedem Tier eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft beilegen. Erzählung und Moral sind in der F. noch unlösbar verbunden, und es ist nicht notwendig, aber schon seit alter Zeit beliebt, daß die letztere am Schluß (hier und da auch schon zu Anfang) in einer besondern Formel zusammengefaßt wird. In der modernen F. sind das erzählende und reflektierende Element in der Regel deutlicher voneinander geschieden, und die Erzählung dient nur zur überraschenden Darlegung einer bestimmten Wahrheit …

Meyers Großes Konversations-Lexikon
Band 6. Leipzig 1906, S. 241

Keine Kommentare: