Montag, 30. Juni 2008

Äsopus und der Esel

Der Esel sprach zu dem Äsopus: »Wenn du wieder ein Geschichtchen von mir ausbringst, so laß mich etwas recht Vernünftiges und Sinnreiches sagen.«
»Dich etwas Sinnreiches!« sagte Äsop; »wie würde sich das schicken? Würde man nicht sprechen, du seist der Sittenlehrer und ich der Esel?«
Gotthold Ephraim Lessing

Sonntag, 29. Juni 2008

Die Milbe

»Nichts ist gewisser«, sprach eine Milbe zu der andern, »als daß unser Käse der Mittelpunkt des erhabnen Weltsystems ist und daß wir die besondern Lieblinge des Allmächtigen sind, weil er uns die vollkommenste Wohnung erschuf.« »Törin«, sprach ein Mensch, indem er sie mit ihrem Käse verschlang. »Du denkst, wie viele meiner Brüder denken, du auf deinem Käse, sie auf dem Ihrigen.«
Novalis


Samstag, 28. Juni 2008

Die Laster und die Strafe

Die Kinder des verworfnen Drachen,
Die Laster, reisten über Land,
Um anderswo sich was zu machen,
Weil sich zu Hause Mangel fand.

Das Gras erstarb, wo sie gegangen,
Der Wald ward kahl, die Felder wild,
Die Straße war mit Molch und Schlangen,
Die Luft mit Eulen angefüllt.

Jetzt sahn sie ungefähr zurücke,
Es folgte jemand nach, und wer?
Die Strafe hinkte mit der Krücke
Ganz langsam hinter ihnen her.

Du holst uns diesmal, rief der Haufen,
Gewiß nicht ein: doch diese sprach:
»Fahrt ihr nur immer fort zu laufen,
Ich komm’ oft spät, doch richtig nach.«

Magnus Gottfried Lichtwer

Freitag, 27. Juni 2008

Wasser und Erde


»Ohne mich würdest du gar nicht erst das Tageslicht erblicken“ spricht die Erde zum Wasser, das munter aus der Quelle sprudelt. »Wo würdest du hinlaufen, wenn ich dir nicht ein Bett geben würde?« fragt die Erde den Bach, der leise durch die Wiese plätschert. »Könntest du ohne mich die Schiffe tragen?« klagt die Erde, die den breiten schweren Fluss in Richtung Meer geleiten muss. »Wenn ich dich nicht aushalten könnte«, summt leise und dumpf aus der Tiefe die Erde zum Ozean, »wo wärst du dann im unendlichen Weltall?«

In feinem Dunst steigt das Wasser in die Höhe, zieht über dem blauen Planeten in sich immer mehr verdichtenden Wolken weiter bis zum Abregnen. Sanft sickert das Wasser, die Erde für ihre hilfreichen Taten streichelnd, hinab in den Untergrund, was diese behaglich und still hinnimmt.

Horst-Dieter Radke

Über die Fabel

Alle Welt hasset die Wahrheit, wenn sie einen trifft. Darum haben weise hohe Leute die Fabeln erdichtet und lassen ein Tier mit dem anderen reden, als wollten sie sagen: Wohlan, es will niemand die Wahrheit hören noch leiden, und man kann doch der Wahrheit nicht entbehren, so wollen wir sie schmücken und unter einer lustigen Lügenfarbe und lieblichen Fabeln kleiden; und weil man sie nicht will hören aus Menschenmund, daß man sie doch höre aus Tier- und Bestienmund.

So geschieht's denn, wenn man die Fabeln liest daß ein Tier dem andern, ein Wolf dem andern die Wahrheit sagt, ja zuweilen der gemalte Wolf oder Bär oder Löwe im Buch dem rechten zweifüßigen Wolf und Löwen einen guten Text heimlich liest, den ihm sonst kein Prediger, Freund noch Feind legen dürfte.
Martin Luther


Donnerstag, 26. Juni 2008

Das größte Übel des Staats, die Ratte in der Bildsäule

Hoan-Kong frage einst seinen Minister, den Koang-Tschong, wofür man sich wohl in einem Staat am meisten fürchten müsse. Koang-Tschong antwortete: »Prinz, nach meiner Einsicht hat man nichts mehr zu fürchten, als was man nennet: die Ratte in der Bildsäule.«

Hoan-Kong verstand diese Vergleichung nicht; Koang-Tschong erklärte sie ihm also:

»Ihr wisset, Prinz, daß man an vielen Orten dem Geiste des Orts Bildsäulen aufzurichten pflegt; diese hölzernen Statuen sind inwendig hohl und von außen bemalet. Eine Ratte hatte sich in eine hineingearbeitet; und man wußte nicht, wie man sie verjagen sollte. Feuer dabei zu gebrauchen getraute man sich nicht, aus Furcht, daß solches das Holz der Statue angreife; die Bildsäule ins Wasser zu setzen, getraute man sich nicht, aus Furcht, man möchte die Farben an ihr auslöschen. Und so bedeckte und beschützte die Ehrerbietung, die man vor der Bildsäule hatte, die - Ratte.«

»Und wer sind diese Ratten im Staat?« fragte Hoan-Kong.

»Leute«, sprach der Minister, »die weder Verdienst noch Tugend haben und gleichwohl die Gunst des Fürsten genießen. Sie verderben alles; man siehet es und seufzet darüber; man weiß aber nicht, wie man sie angreifen, wie man ihnen beikommen soll. Sie sind die Ratten in der Bildsäule.»

Johann Gottfried Herder


Die beraubte Fabel

Es zog die Göttin aller Dichter
Die Fabel in ein fremdes Land,
Wo eine Rotte Bösewichter
Sie einsam auf der Straße fand.

Ihr Beutel, den sie liefern müssen,
Befand sich leer; sie soll die Schuld
Mit dem Verlust der Kleider büßen,
Die Göttin litt es mit Geduld.

Mehr, als man hoffte, ward gefunden
Man nahm ihr alles; was geschah?
Die Fabel selber war verschwunden,
Es stand die bloße Wahrheit da.

Beschämt fiel hier die Rotte nieder,
Vergieb uns Göttin das Vergehn,
Hier hast du deine Kleider wieder,
Wer kann die Wahrheit nackend sehn?
Magnus Gottfried Lichtwer

Mittwoch, 25. Juni 2008

Das Heupferd, oder der Grashüpfer



Ein Wagen Heu, den Veltens Hand
Zu hoch gebäumt, und schlecht bespannt,
Konnt endlich von den matten Pferden
Nicht weiter fortgezogen werden.

Des Fuhrmanns Macht- und Sittenspruch,
Ein zehnmals wiederholter Fluch,
War eben, wie der Peitsche Schlagen,
Zu schwach bei diesem schweren Wagen.

Ein Heupferd, das bei der Gefahr
Zuoberst auf dem Wiesbaum war,
Sprang drauf herab, und sprach mit Lachen:
»Ich wills dem Viehe leichter machen.«

Drauf ward der Wagen fortgerückt.
»Ei«, rief das Heupferd ganz entzückt,
»Du, Fuhrmann, wirst an mich gedenken;
Fahr fort! den Dank will ich dir schenken.«
Christian Fürchtegott Gellert


Fabeltiere



Tiere, die nicht in der Realität sondern in Religion, Mythos und Dichtung vorkommen, nennt man Fabelwesen. Bekanntestes Fabeltier, über viele Völker verbreitet, ist der Drache, der als großes, schlangen- oder echsenartiges, oft geflügeltes Wesen dargestellt wird, das Feuer speien kann und Schätze bewacht. Darstellungen finden sich bereits in der Kunst des Alten Orients. In China gilt der Drache auch als Symbol des Wächters. Das Einhorn ist ein Fabeltier aus dem Mittelalter (weißes Pferd mit Horn), das seine Symbolik hauptsächlich aus dem Christentum entnimmt. Der Phönix ist ein Vogel, der sich selbst verbrennt und aus der Asche neu aufsteigt. Er wurde bereits im alten Ägypten verehrt.
Eine Reihe von Mischwesen sind den Fabeltieren ebenfalls noch zuzuordnen: der Basilisk (Drache & Hahn), Pegasus (Pferd & Mensch) und Greif (Löwe & Vogel).
Fabeltiere sind heute keineswegs ausgestorben. Sie bevölkern die Literaturgattung »Fantasy« so reichlich, wie zuvor die Mythologien der verschiedenen Völkern. In Fabeln selbst kommen sie allerdings nur höchst selten vor.
Horst-Dieter Radke



Dienstag, 24. Juni 2008

Der Fuchs und die Trauben



Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
fand einen Weinstock, der voll schwarzer Trauben
an einer hohen Mauer hing.
Sie schienen ihm ein köstlich Ding,
allein beschwerlich abzuklauben.
Er schlich umher, den nächsten Zugang auszuspähn.
Umsonst! Kein Sprung war abzusehn.
Sich selbst nicht vor dem Trupp der Vögel zu beschämen,
der auf den Bäumen saß, kehrt er sich um und spricht
und zieht dabei verächtlich das Gesicht:
Was soll ich mir viel Mühe nehmen?
Sie sind ja herb und taugen nicht.

Karl Wilhelm Ramler (nach Äsop)

Erde und Luft



Die Erde sahe jüngst der Lüfte schönes Blau,
Mit einem kleinen Neid, halb eifersüchtig an,
Und sprach: stoltzire nur, mit deinem blauen Licht,
So übermüthig nicht,
Weil ich so wohl, als du, dergleichen zeigen kann.
Schau mein Ultramarin; betrachte, wie der Pfau
Im blauen Schimmer prangt; schau den Sapphir. Vor allen
Kann ich dir der Gentianellen
Fast blendend Blau entgegen stellen.
Ihr voller Glantz muß dir,
Trotz deiner blauen Zier,
Noch mehr, als du dir selbst gefallen kannst, gefallen.

Die Luft nahm diesen Hohn für kein Verhöhnen an;
Vielmehr besahe sie, vergnügt und sonder Neid,
Von diesem schönen Frühlings-Kinde,
Das dem Sapphir fast gleiche Kleid,
Und lispelte darauf gelinde
Der Erde diese Worte zu:

Ich sehe deinen Schmuck nicht sonder Freuden.
Warum besiehest du
Den meinen nicht auf gleiche Weise?
Laß uns doch, ohn' uns zu beneiden,
Uns, da wir alle beyde schön,
Mit Freud' und Anmuth, dem zum Preise,
Der unser aller Quell und Ursprung ist, besehn!
Laß uns vielmehr uns in die Wette schmücken;
Damit, wenn Geister uns erblicken,
Die mit Verstand begabt, durch ein erstaunt Entzücken,
Sie in uns beyden GOTT, die Quell des Lichts, erhöhn.
Denn, sonder Glantz und Strahl desselben Sonnen-Lichts,
Sind wir, nicht nur nicht schön; wir sind ein wircklich Nichts.

Laß deine schöne blaue Bluhme
Denn künftig, zu des Schöpfers Ruhme,
In einem blauen Feuer blühen:
Ich will, wie vor, zu seiner Ehr',
Und zwar noch immer mehr und mehr,
In meinem blauen Schimmer glühen.
Barthold Heinrich Brockes

Montag, 23. Juni 2008

Die Geschichte von den Krähen und der Schlange



Ein Krähenpaar hatte sich auf einem großen Feigenbaum ein Nest gebaut. Aber jedes Mal zur Brutzeit kam aus einer Höhlung des Baumes eine schwarze Schlange und fraß ihre Jungen. Da fragten die Krähen voller Verzweiflung den listigen Schakal: »Was sollen wir nun tun? Wie können wir verhindern, dass die schwarze Schlange immer unsere Jungen frisst?«
Der Schakal antwortete: »Fliegt in die Stadt und stehlt eine goldene Kette von einem reichen Mann oder gar vom König. Werft diese Kette in die Höhlung des Baumes!«
Da flogen die beiden Krähen sofort in die Stadt und stahlen der Königin eine golden glitzernde und funkelnde Kette. Die Diener bemerkten dies sofort und verfolgten die Raben mit Stöcken und Knüppeln. Beim Baum angekommen warfen die Raben die Kette so in die Höhlung des Baumes, dass sie noch etwas heraushing. Als die Diener kamen, war die schwarze Schlange bereits hervorgekommen und drohte mit aufgeblähter Haube. Da erschlugen die Diener die schwarze Schlange und die Krähen lebten seit dieser Zeit in Frieden und zogen ihre Jungen ungefährdet groß.

Durch Hinterlist ist ausführbar, was nicht Gewalt erreichen kann.

Indische Fabel aus dem Pantschatantra, nacherzählt auf Basis der Übersetzung aus dem Sanskrit von Theodor Benfey (1859) von Horst-Dieter Radke

Principium der Reduktion

Unter den Übungen nun, die diesem allgemeinen Plane zufolge angestellt werden müßten, glaube ich, würde die Erfindung Äsopischer Fabeln eine von denen sein, die dem Alter eines Schülers am allerangemessensten wären; nicht daß ich damit suchte, alle Schüler zu Dichtern zu machen, sondern weil es unleugbar ist, daß das Mittel, wodurch die Fabeln erfunden werden, gleich dasjenige ist, das allen Erfindern überhaupt das allergeläufigste sein muß. Dieses Mittel ist das Pricipium der Reduktion …
G.E.Lessing: Abhandlung über die Fabel, V. Von einem besonderen Nutzen der Fabeln in den Schulen


Sonntag, 22. Juni 2008

Die Gesellschaft, die Einsamkeit und die Vernunft

Die Gesellschaft: Der Mensch fliehe die Wälder, hasse das ungesellige einsiedlerische Leben; wann er nicht seinesgleichen kennenlernt, wird er, ob er gleich zu einem hohen Alter gekommen ist, doch noch ein Kind sein: Und sollte er nicht wissen können, daß ich einzig und allein Lehrerin in dieser Schule bin!

Die Einsamkeit: Der Mensch gehe in die Wälder, liebe das ungesellige einsiedlerische Leben; ich, Lehrerin anderer Studien, beglücke ihn mehr: Mag auch andere kennenzulernen eine nützliche Wissenschaft sein, aber ist's nicht öfterer nützlich, sich selber zu kennen!

Die Vernunft: Ihr beide, fürchte ich, täuscht euch aufs äußerste. Der Mensch muß unter alle beide seine Tage teilen, die eine verlassen und wieder zur anderen kommen, die Kenntnisse, die er von euch bekommt, zusammenmischen und auf ein Ziel richten. Aber mit einer einzigen von euch erhält derselbe selten ein dauerhaftes Gut.
Johann Chr. Dreysig

Samstag, 21. Juni 2008

Aufbau der Fabel

Wenn man bei der knappen Form der Fabel von einem Aufbau sprechen kann, dann ist es der Folgende: Zunächst wird in die Situation eingeführt. Ein Wort mag genügen, meist ist es aber ein Satz.

»Ein reicher Athener machte mit andern eine Seefahrt.«

Die Situation ist damit ausreichend geschildert: eine Fahrt auf hoher See, Protagonist ist ein reicher Athener, andere Schiffsreisende sind aber auch noch dabei.
Als nächstes wird das Problem geschildert. Das kann schon umfangreicher ausfallen, sollte aber im Bewusstsein, dass die Fabel an Knappheit niemals leidet, nicht zu umfangreich ausfallen.

»Als ein heftiger Sturm aufkam und das Schiff kenterte, suchten sich alle andern durch schwimmen zu retten. Der Athener aber, der bei jeder Gelegenheit die Athene anrief, gelobte ihr wunder was, wenn sie ihn rette.«

Anschließend folgt die Lösung des Problems (oder die Auflösung der kritischen Situation). Im Allgemeinen kann sie kürzer ausfallen als die Problemschilderung, keinesfalls aber länger.

»Da sagte einer von den Schiffbrüchigen, der in der Nähe schwamm: ,Beten kannst du zu Athene, aber du mußt auch schwimmen!’«

Damit ist die Fabel eigentlich zu Ende. Nicht selten aber wird noch die Aussage der Fabel in einem letzten Satz formuliert (sozusagen die Lehre daraus):

»Wer ins Unglück gerät, muß erst selbst etwas für sich tun und dann den Gott zu Hilfe rufen.«
(Äsop: Der Schiffbrüchige)
Horst-Dieter Radke

Freitag, 20. Juni 2008

Vom Hunde vnd Schaf



Der Hund sprach ein Schaf für Gericht an vmb Brod, das er jm gelihen hette. Da aber das Schaf leugnet, berieff sich der Hund auff Zeugen, die musste man zu lassen. Der erste Zeuge war der Wolff, der sprach: Ich weis, das der Hund dem Schaf Brod gelihen hat. Der Weihe sprach: Ich bin dabey gewest. Der Geir sprach zum Schaf: Wie tharstu das so vnuerschampt leugnen? Also verlor das Schaf seine Sache vnd musste mit schaden zur vneben zeit seine Wolle angreiffen, damit es das Brod bezalet, das es nicht schüldig worden war.

Lere

Hüt dich vor bösen Nachbarn oder schicke dich auff Gedult, wiltu bey Leuten wonen. Denn es gönnet niemand dem andern was Guts, das ist der Welt lauff.

Martin Luther


Die Sperlinge

Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze dastand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert.
»Zu was«, schrien sie, »taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!«
Gotthold Epraim Lessing

Donnerstag, 19. Juni 2008

Die Hähne

»Seht ihr laufen den fremden Hahn?
Den hab' ich ordentlich abgetan;
kommt mir auf meinen Hof daher,
Als wenn alles sein eigen wär'. –
Merkt es euch alle: wer mir's wagt,
Der wird mit Schanden davongejagt.«

Herr Hahn war so bös und gestrenge,
Trieb Hühner und Gänse in die Enge,
Und wer sich auf seinem Hof ließ seh'n,
Den hieß er gleich von dannen gehn,
Doch als er sich auch an den Spitz will wagen,
Da packt ihn der derb an seinem Kragen.
Wilhelm Hey


Mittwoch, 18. Juni 2008

Eidechse und Mücke



»Lass mich leben«, bat die Mücke die Eidechse in Erwartung ihrer klebrigen Zunge.
»Warum sollte ich dies tun?« fragte die Eidechse, neugierig auf eine unterhaltsame Antwort. »Ich sauge denen das Blut aus, die dir den Schwanz abreißen und mehr und mehr den Lebensraum eingrenzen.« Die Zunge der Eidechse schnellte vor und die Mücke verschwand im Maul der Echse. »Damit sie dich totschlagen und mir auch noch die Nahrung eingrenzen? Dummes Ding! Mir ist die Mauer groß genug, in der ich lebe – was gibt es da noch einzugrenzen?«

Etwas weiter entfernt reißt ein Buldozer Hecken aus und wirft Mauern um. Platz wird benötigt, um eine neue Wohnsiedlung für die Menschen zu bauen, die zwar in der Stadt arbeiten, aber dort nicht leben möchten.
Horst-Dieter Radke

Die beiden Krebse



»Geh doch nicht so krumm, sondern in gerader Linie!« rief ein älterer Krebs einem jüngeren zu.
»Von Herzen gern«, erwiderte dieser, »nur bitte ich, mir voranzugehen!«

Tadle an niemandem einen Fehler, den du selbst besitzt!
A.G.Meißner

Dienstag, 17. Juni 2008

Der Schuh und der Pantoffel

Ein Schuh mit einer Schnalle redete einen Pantoffel, der neben ihm stand, also an: »Liebster Freund, warum schaffst du dir nicht auch eine Schnalle an? Es ist eine vortreffliche Sache!«
»Ich weiß in Wahrheit nicht einmal, wozu die Schnallen eigentlich nützen«, versetzte der Pantoffel.
»Die Schnallen«, rief der Schuh hitzig aus, »wozu die Schnallen nützen? Das weißt du nicht? Ei, mein Himmel, wir würden gleich im ersten Morast steckenbleiben.«
»Ja ,liebster Freund«, antwortete der Pantoffel, »ich gehe nicht in den Morast.«
Georg Christoph Lichtenberg


Die Welt ist alt …

Man sagt, die Welt ist alt. Ich glaub' es; doch gewinnt
nur, wer sie unterhält, als wäre sie ein Kind.
Jean de La Fontaine

Der Bettelmann und der Tod

Ein Bettelmann warf seine Krücke
Voll Unmuhts in den tiefen Rhein,
Und sprach, erzörnt auf sein Geschicke,
O Tod, verkürze meine Pein!
Der Tod erschien ihm aus Erbarmen.
Ey, sprach der Bettler, bist du hier.
Mein Trost und Stab entfiel mir Armen,
Ach schwimm ihm nach, und hohl ihn mir.
Carl Friedrich Drollinger

Montag, 16. Juni 2008

Die Wolken



Hoch oben am Himmel schwebt die Wolke und schaut herunter auf die Erde. Weit kann sie das Land überschauen, sieht die Menschen wie Puppen zwischen den Häusern der Stadt umherlaufen und ist glücklich, nicht an den Boden gefesselt zu sein, wie die anderen Lebewesen dort unten. Eine weitere Wolke gesellt sich hinzu und bald ist der ganze Himmel von Wolken bedeckt. Sie schauen auf die immer größer werdenden Schatten, die die Erde abdunkeln.

Trauer kommt auf. Kein Sonnenlicht kommt mehr durch. Während die Wolken an ihrer Oberseite von den Sonnenstrahlen durchwärmt werden, beginnen sie unten zu frieren, denn die Kälte kommt mittlerweile bis zu ihnen hinauf. Mitleid mit den armen Wesen dort unten in der kalten, dunklen Welt lässt die erste Wolke Tränen vergießen. Bald weint eine zweite, eine dritte Wolke und irgendwann schluchzen sie alle gemeinsam. Aus den paar Tropfen der ersten Wolke ist ein kräftiger Schauer geworden, der auf die Erde, die Wiesen, die Häuser, die Straßen platscht.

Dann haben die Wolken ausgeweint, sind am Himmel verschwunden und die Sonne dringt mit ihren Strahlen wieder bis ganz hinunter. Lustig plätschern kleine Rinnsale durch die Straßen und versickern breitflächige Pfützen fröhlich in der Erde.
Horst-Dieter Radke

Der Fabulist II

Der Fabulist will in Einer Fabel nur Eine Moral zur Intuition bringen. Er wird es also sorgfältig vermeiden, die Teile derselben so einzurichten, daß sie uns Anlaß geben, irgend eine andere Wahrheit in ihnen zu erkennen, als wir in allen Teilen zusammengenommen erkennen sollen. Viel weniger wird er eine solche fremde Wahrheit mit ausdrücklichen Worten einfließen lassen, damit er unsere Aufmerksamkeit nicht von seinem Zwecke abbringe oder wenigstens schwäche, indem er sie unter mehrere allgemeine moralische Sätze teilt.
G.E. Lessing: Abhandlung über die Fabel, IV. Von dem Vortrage der Fabeln

Sonntag, 15. Juni 2008

Ich zog mir einen Falken

Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr.
dô ich in gezamete, als ich in wolte hân,
und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant,
er huop sich ûf vil hôhe und vlouc in ándèriu lant.

Sît sach ich den valken schône vliegen,
er vuorte an sînem vuoze sîdîne riemen,
und was im sîn gevidere alrôt guldîn.
got sende sî zesamene, die gelíeb wéllen gerne sîn!
Der von Kürenberg
Das vollständige Lied

Halm und Ähre



Mit stolz erhabner Stirn', und nicht durch Last gedrückt,

Sprach einst ein leerer Halm zu einer vollen Ähre:
»Wie kommt es, daß dein Haupt so nach dem Boden nickt?«
Sogleich versetzte die dem Brüdergen zur Lehre:
»Ich stünde freylich nicht so tief hinab gebückt,
Wann ich so leer, wie du, in meiner Stirne wäre.«
Nicolaus Götz

Samstag, 14. Juni 2008

Parabel und Rätsel

Unter allen Schlangen ist eine,
Auf Erden nicht gezeugt,
Mit der an Schnelle keine,
An Wut sich keine vergleicht.

Sie stürzt mit furchtbarer Stimme
Auf ihren Raub sich los,
Vertilgt in einem Grimme
Den Reiter und sein Roß.

Sie liebt die höchsten Spitzen;
Nicht Schloß, nicht Riegel kann
Vor ihrem Anfall schützen;
Der Harnisch - lockt sie an.

Sie bricht, wie dünne Halmen,
den stärksten Baum entzwei:
Sie kann das Erz zermalmen,
Wie dicht und fest es sei.

Und dieses Ungeheuer
hat zweimal nie gedroht -
Es stirbt im eignen Feuer;
Wie's tötet, ist es tot!
Friedrich Schiller

Auf der Lichtung



Sommermittag auf dem Hochwald brütet,

Aber auf der Lichtung treu behütet
Vom Geflechte dunkler Brombeerranken,
Wachen auf des Waldes Lichtgedanken.

Falter sind es, die so farbenprächtig,
Auf der Lichtung, sonnig halb und nächtig,
Diese Brombeerblüten still umbeben,
Purpurdisteln geistergleich umschweben.

Sagt mir an ihr stillen Geisterfalter
Auf der Lichtung: Wie viel Zeitenalter
ihr im Banne laget bei den Toten,
Eh ihr wurdet solche Wunderboten?
Christian Wagner
Schmetterlinge fotografieren


Rafik Schami: Das Schaf im Wolfspelz

„Märchen & Fabeln“ steht im Untertitel. Tatsächlich sind hauptsächlich Märchen enthalten. In einer Geschichte wird die Moral der Fabel von der Grille und der Ameise umgekehrt und eine weitere Fabel über Ameisen ist so märchenhaft ausgestaltet, dass man sie nicht recht zu den Fabeln ordnen mag. Aber ist das schlimm? Nicht bei Rafik Schami! Er erzählt gekonnt und souverän, unterhaltsam und doch mit soviel Tiefgang, dass es auch Fabelfreunden rundum empfohlen werden kann.
Horst-Dieter Radke

Freitag, 13. Juni 2008

Magersucht

„Sollen wir für eine Weile getrennt unsere Wege gehen?“ fragte Mager die Sucht?
„Warum sollten wir eine erfolgreiche Zusammenarbeit beenden?“ antwortete diese.
Horst-Dieter Radke

Der Fabulist

Der Fabulist braucht Fuchs, um mit einer einzigen Silbe ein individuelles Bild eines witzigen Schalks zu entwerfen, und der Poet will lieber von dieser Bequemlichkeit nichts wissen, will ihr entsagen, ehe man ihm die Gelegenheit nehmen soll, eine lustige Beschreibung von einem Dinge zu machen, dessen ganzer Vorzug hier eben dieser ist, daß es keine Beschreibung bedarf.
G.E.Lessing: Abhandlung über die Fabel, IV. Von dem Vortrage der Fabeln

Donnerstag, 12. Juni 2008

Der Hase



Ich hœre sagen vür wâr:
der einen hasen zehen jâr
an einem bande gehabe,
gezihe er im daz bant abe,
er werde dannoch wilde.

das ist ein gelîches bilde:
swie lange ein man die êre hât,
swenne er sie ûz der huote lât,
si wirt noch wilder denne der hase,
der da loufet an dem grase.
Der Stricker
Quelle:

Mittwoch, 11. Juni 2008

Die Eule und der Schatzgräber



Jener Schatzgräber war ein sehr unbilliger Mann. Er wagte sich in die Ruinen eines alten Raubschlosses und ward da gewahr, daß die Eule eine magere Maus ergriff und verzehrte.
"Schickt sich das", sprach er, "für den philosophischen Liebling Minvervens?"
"Warum nicht?" versetzte die Eule. "Weil ich stille Betrachtungen liebe, kann ich deswegen von der Lust leben? Ich weiß zwar wohl, daß ihr Menschen es von euren Gelehrten verlanget."
Gotthold Ephraim Lessing

Dienstag, 10. Juni 2008

Schönheit und Vergänglichkeit



Von oben, mit geöffneten Flügeln, sieht der Kleine Eisvogel eher unscheinbar aus. Mit seinen dunkelbraunen Flügeln und dem weißen Streifen wirkt er fast so wie ein Mönch in seiner Kutte. Die wunderschöne farbige Unterseite sieht man erst, wenn der Falter die Flügel zuklappt, etwa, wenn er sich zum Speisen auf die verwesenden Reste der Schnecke oder den frischen Hundekot gesetzt hat.
Horst-Dieter Radke

Kind und Buch

»Komm her einmal, du liebes Buch;
Sie sagen immer, du bist so klug.
Mein Vater und Mutter die wollen gerne,
Daß ich was Gutes von dir lerne;
Drum will ich dich halten an mein Ohr,
Nun sag mir all deine Sachen vor.

Was ist denn das für ein Eigensinn,
Und siehst du nicht, daß ich eilig bin?
Möchte gern spielen und springen herum,
Und du bleibst immer so stumm und dumm?
Geh, garstiges Buch, du ärgerst mich,
Dort in die Ecke werf' ich dich.«
Wilhelm Hey

Fabel und Historie

Sucht nach der Wahrheit in Gedichten,
Und nach den Lügen in Geschichten,
Daß die Gedicht' euch nützlich sein
Und die Geschicht' euch nicht betrüge;
Denn jene zeigen uns die Wahrheit unter'm Schein
Der Lügen, unter'm Schein der Wahrheit diese Lüge
Christian Wernicke

Montag, 9. Juni 2008

Von dem Wolf und dem Lamb



Ein wolf het glaufen in der sonnen
Und kam zu einem külen bronnen.
Als er nun trank, sich weit umbsach,
Ward er dort niden an dem bach
Eins lambs gewar, das auch da trank.
Gar zorniglich der wolf zusprank
Und sprach: »Du trübst das waßer mir,
Daß ich nicht trinken kan für dir.«
Das lamb erschrack und sprach: »Herr, nein!
Bitt, wöllest nicht so zornig sein
Und kein gewalt wider mich üben!
Wie kan ich euch das waßer trüben?
Das waßer, welchs ich trunken hab,
Das fleußt von euch zu mir herab;
Tu euch hiemit nichts zu verdrießen:
Drumb laßt mich meiner unschuld gnießen.
Wenn ich schon wolt, könt ich doch nit
Euch etwas schaden tun hiemit.«
Der wolf sprach: »Schweig, du böses tier!
All deine freunde haben mir
Von anbegin zuwidern tan,
Dein bruder und deinr mutter man;
Kunt mit in kommen nie zu recht;
Ihr seid ein bös, verflucht geschlecht.
Meins schadns wil ich mich jetzt erholen;
Du must mir heut das glach bezalen.«
Der wolf zeigt die tyrannen an,
Das lamb die armen undertan.
Denn so geschicht noch heut bei tag:
Wo der groß übern kleinen mag,
Wirft er auf in sein ungedult,
Unangesehn ob er hab schult.
Doch hat der gsündigt allzu vil,
Den man zur antwort nicht statten wil.
Wenn man gern schlagen wolt den hund,
Findt sich der knüttel selb zur stund.
Die hund das brot den kindern nemen:
Die alten laßens wol bezemen.
Der weih die tauben tut bekriegen
Und leßt schedliche rappen fliegen;
Und wo der zaun am nidrigsten ist,
Da steigt man über zu aller frist.
Burkard Waldis

Fabel

Ich stocherte mit meinem Spazierstock in einem Ameisenhaufen herum. Wild und geängstigt liefen die Tiere durcheinander. Plötzlich hob ich ihn heraus und ging davon. Die Ameisen, die den Stock in den Lüften verschwinden sahen, schrien: »Welch ein seltsamer Vogel!« – Eine besonders kecke Ameise war am Stock emporgeklettert. Ich mußte sie abschütteln. Ganz aufgeregt kam sie bei den anderen an. Atemlos stieß sie hervor: »Er hatte einen Menschen in den Klauen, er frißt Menschen!« – Darauf ging sie hin, fiel in Tiefsinn, schrieb ein Buch: »Art, Abstammung und Organismus des neu entdeckten Stockvogels« und wurde zum ordentlichen Professor der Zoologie an der Ameisenuniversität Przmnldtbk ernannt.
Klabund

Sonntag, 8. Juni 2008

Sparsamkeit der Mittel

Wer eine Fabel dichten kann, ist schon auf dem Wege zur großen Erzählung; denn hier wie dort müssen die gleichen Bildkräfte in gleichen Zügen schaffen: nur daß in der Fabel alles einfach ist und einfältig klar wie in einem Uranfänglichen. Und in der Fabel lernt der Schriftsteller, was er nicht früh genug lernen kann: die Sparsamkeit der Mittel.
Broder Christiansen

Kurz muss die Fabel sein

Wenn ich mir einer moralischen Wahrheit durch die Fabel bewußt werden soll, so muß ich die Fabel auf einmal übersehen können; und um sie auf einmal übersehen zu können, muß sie so kurz sein als möglich. Alle Zieraten aber sind dieser Kürze entgegen, denn ohne sie würde sie noch kürzer sein können; folglich streiten alle Zieraten, insofern sie leere Verlängerungen sind, mit der Absicht der Fabel.
Lessing: Abhandlungen über die Fabel, IV. Von dem Vortrage der Fabeln

Samstag, 7. Juni 2008

Der Wels und die Rotfedern



»Kommst du auch mal ans Licht, Dreckwühler?« fragt eine Rotfeder den großen Wels, der wegen des warmen Wetters an die Oberfläche des Teichs gekommen ist und gemächlich, mit langsamen, schlängelnden Bewegungen dahin zieht.
»Sonst immer im Dunkeln, Schlammpeitscher, was willst du hier oben?« ruft eine andere aus dem Schwarm, der den seltenen Gast an der Oberfläche umspielt. »Pass auf, wenn du lange hier oben bei uns bleibst, dann fallen wir über dich her.« »Verschwinde lieber, bevor wir dir was antun!« »Uns bekommst du nicht zu fassen, wir sind viel flinker und wendiger als du.« Der Wels antwortet nicht auf das Gezeter der kleinen Fische. Bald verlieren diese das Interesse und verschwinden ins Schilf, um Nahrung zu suchen. Der Wels zieht noch eine Weile dicht unter der Oberfläche des Teichs dahin und lässt sich dann, als er genug davon hat, wieder zurück auf den Grund sinken. Das Geschrei der kleinen Leute stört den obersten Beamten nicht.
Horst-Dieter Radke

Der Hund im Wasser



Es lief ein Hund durch einen Strom und hatte ein Stück Fleisch im Maul; als er aber das Spiegelbild vom Fleisch im Wasser sah, dachte er, es wäre auch Fleisch, und schnappte gierig danach. Als er aber das Maul auftat, entfiel ihm das Stück Fleisch, und das Wasser trug es weg; also verlor er beides: das Fleisch und das Spiegelbild.
Martin Luther

Kurze Geschichte der Fabel

Neufassung hier

Freitag, 6. Juni 2008

Der Kukuk

Der Kukuk sprach mit einem Staar,
Der aus der Stadt entflohen war.
Was spricht man, fing er an zu schreyen,
Was spricht man in der Stadt von unseren Melodeyen!
Was spricht man von der Nachtigall?
Die ganze Stadt lobt ihre Lieder.
Und von der Lerche? rief er wieder.
Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme Schall.
Und von der Amsel, fuhr er fort.
Auch diese lobt man hier und dort.
Ich muß dich doch noch etwas fragen:
was, rief er, spricht man denn von mir?
Das, sprach der Staar, das weis ich nicht zu sagen;
Denn keine Seele redt von dir.
So will ich, fuhr er fort, mich an dem Undank rächen,
Und ewig von mir selber sprechen.
Christian Fürchtegott Gellert

Möwe und Sonne



»Das ich dich nicht erreichen kann« klagt die Möwe hoch über den Wolken zu der Sonne, »ist die Tragik meines Lebens. Ich sollte mich hinabstürzen und in den Klippen zerschellen, denn die ersehnte Freiheit werde ich nie erlangen.«
»Du bist ungerecht« schalt die Sonne. »Deine Freiheit ist, höher als die meisten Lebewesen über der Erde zu schweben. Bei mir hättest du noch weniger Freiheit - denn ich würde dich verbrannt haben, ehe du zu mir gelangt wärst.«
Horst-Dieter Radke

Donnerstag, 5. Juni 2008

Frau Katze

»Frau Katze, was schleichst du doch
Dort auf dem Dache umher so hoch?
Hast du das Schwälbchen sitzen seh'n
Möchtest ihm gerne zu Leibe gehn?
Sachte nur! Schwälbchen ist klüger als du,
Fliegt von dannen, und du siehst zu.«

Frau Katze war grämlich in ihrem Sinn,
Sah nur so von der Seite hin,
Dachte: »Das ist ein schlecht Vergnügen,
Daß die Vögel so können fliegen.«
Ist dann hinab in den Hof gegangen,
Hat sich bald eine Maus gefangen.
Wilhelm Hey

Die Nachtigall und die Lerche

Was soll man zu den Dichtern sagen, die so gern ihren Flug weit über alle Fassung des größten Teiles ihrer Leser nehmen? Was sonst, als was die Nachtigall einst zu der Lerche sagte: »Schwingst du dich, Freundin, nur darum so hoch, um nicht gehört zu werden?«
Gotthold Ephraim Lessing

Mittwoch, 4. Juni 2008

Tyrannen-Gerechtigkeit




Ein Tiger rühmte sich: Er hätte Wolfesblut

Und Lämmerblut zugleich vergossen,
Es wäre wie ein Strom geflossen!

»Gut«, sprach ein Fuchs, »sehr gut,

Daß es geschehen ist! Denn wär' es nicht geschehen,
So hätten wir ja nicht den schönen Strom gesehen,
Er floß so lieblich rosenroth!«
»Schlagt«, sprach der Tiger da, »mir dort den Schmeichler todt!«

Urplötzlich ward er todtgeschlagen!
Mit einem Schlage that's der ärmste Tigerknecht!
Die's sah'n, die hörte man, nur aber leise, sagen:
»Das war ja doch einmal gerecht!«

Johann Wilhelm Ludwig Gleim

Fabel als Therapie

Der therapeutische Effekt beim Lesen von Fabeln ist heute nicht mehr so ohne weiteres auszumachen. Deutlicher tritt er jedoch hervor, wurde die Fabel selbst erstellt. Hier wird nicht auf eine Offensichtlichkeit verwiesen sondern etwas »hervorgeholt«, was sonst nicht so unmittelbar offen gelegt werden würde. Das ist aber durchaus nicht gleich bei den ersten Fabeln der Fall. Beginnt man mit dem »Ausdenken« und »Ersinnen« von Fabeln kratzt das sozusagen für eine Weile an der Oberfläche. Der Spaß an der Sache verhindert zunächst diese Katalysatorwirkung. Mit steigender Kreativität werden aber »versteckte Poren« geöffnet und irgendwann schleicht sich etwas in eine Fabel, das Betroffen macht. Das habe ich geschrieben? Warum? Ich wollte doch etwas ganz anderes?
Horst-Dieter Radke

Dienstag, 3. Juni 2008

Das Wiesel und die Taube

Eine Taube sah, daß ein Wiesel mehrere Tage hindurch alle Morgen seine Jungen an einen anderen Ort hintrug.
»Dies ist allerdings«, sprach die Taube, »der Feinde wegen sehr klug gehandelt. Aber - wer hat dich diese Vorsicht gelehrt?«
»Du selbst«, antwortete das Wiesel, »denn ich sah, daß du deine Jungen immer an einem und demselben Orte erzogest und daß eben deswegen der sie dir sämtlich raubte.«

Lehre.
Aus fremden Fehlern eigene Vorsicht erlernen ist eine Art von Weisheit, die man nicht oft genug empfehlen kann.
Ch.J.Stumpf

Die Wirklichkeit der Fabel

Ich habe gesagt und glaube es erwiesen zu haben, dass auf der Erhebung des einzeln Falles zur Wirklichkeit der wesentliche Unterschied der Parabel oder des Exempels überhaupt und der Fabel beruht. Diese Wirklichkeit ist der Fabel so unentbehrlich, dass sie sich eher von ihrer Möglichkeit als von jener etwas abbrechen lässt.
Lessing, Abhandlung über die Fabel – III. Von der Einteilung der Fabeln

Montag, 2. Juni 2008

Die Saite und die Gitarre

„Was bist du ohne mich?“, summte die Saite zur Gitarre. »Ein leerer, offener Holzkasten, den man noch nicht einmal verschließen kann. Erst durch mich wirst du zum Klingen, deine Decke zum Schwingen gebracht. Ich bin dein höheres Selbst, dein Geist und deine Seele.«
Mit einem hässlichen Schnarren zerriss die Saite und der Spieler, mitten im Konzert, rettete die Situation, in dem er auf der Decke und den Zargen rhythmische Kaskaden klopfte und das Publikum zu Begeisterungsrufen hinriss.
In der Pause wechselte er die Saite und warf die alte, zerrissene achtlos fort.
Horst-Dieter Radke

Sonntag, 1. Juni 2008

Der Hirschkäfer. (Parabel)

Es war einmal eine große Versammlung der Hirsche ausgeschrieben, und sie kamen zusammen im Walde, der jetzt die »Hirschplatte« heißt. – Und der Hirschkäfer, auch Hornschröter genannt, macht sich auch zu der Versammlung; denn er rechnete sich auch zu den Hirschen. – Aber diese achteten seiner nicht, sondern liefen hin und her und zertraten ihn.
Merke: Menge dich nicht unter die Gewaltigen und unter die Großen!
Christian Wagner

Der Strauß

Das pfeilschnelle Renntier sah den Strauß und sprach: »Das Laufen des Straußes ist so außerordentlich eben nicht; aber ohne Zweifel fliegt er desto besser«.
Ein andermal sah der Adler den Strauß und sprach: »Fliegen kann der Strauß nun wohl nicht; aber ich glaube, er muß gut laufen können«.
Gotthold Ephraim Lessing