Samstag, 1. November 2008

Der ruhmsüchtige Bär

Foto: Jeremias Radke

Ein auf die Ehr’ erpichter Bär

Saß in dem Schnee bei einem Strauch

Und dacht’: »Ei, wüßt’s die Nachwelt auch,

Wie groß mein Leib gewesen wär’,

Ich würde selbst nach meinem Sterben

Bei solcher Dank und Ruhm erwerben.«


Er sprach darüber seine Jungen

Und sagt’: »Ich sehe mich gezwungen,

Dass ich den großen Körper messe,

Damit ich dessen seltne Größe

Der Nachwelt so für Augen lege,

Dass sie es deutlich fassen möge.«



Bald fielen ihm die Jungen bei

Und schwuren: »Ja, bei unsrer Treu’,

Wir sahen auch schon viele Bären;

Jedoch es wird noch lange währen,

Eh dass in unserm Königreiche

Sich einer dir an Größe gleiche;

Deswegen sei darauf beflissen,

Dass es die späten Enkel wissen.«



Der Alte dacht’ jetzt allgemach

Dem edeln Unternehmen nach

Und rief, als er’s zuletzt erfunden,

Indem die Kinder um ihn stunden:

»Führwahr, es haben Kunst und Witz

In meinem Körper ihren Sitz.«


Stracks leget er sich in den Schnee,

Er streckt die Pfoten in die Höh’

Und heißt die Kleinen auf ihn treten;

Dann sagt er: »Jetzo will ich wetten,

So sieht man Haut, so sieht man Haar,

Zusammt der Größe sonnenklar.


Kein Fürst hat noch in seinem Schild

Von einem Bär ein schöners Bild.«


Ein jeder von den Jungen preist

Des alten Bären feinen Geist,

Indem den Abdruck sie betrachten

Und ihn des Urbilds würdig achten.

Ein jeder spricht: »Es ist geraten;

Fürwahr, der Alte hat’s erraten.«


Sie dachten alle nicht so weit,

Dass dieses Werk trotz seiner Würde,

Trotz aller seiner Ähnlichkeit

Im nächsten Schnee vergehen würde,

Der wirklich noch denselben Tag

Schon auf des Bären Kunststück lag.


Johann Ludwig Meyer von Knonau

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