Donnerstag, 26. Juni 2008

Das größte Übel des Staats, die Ratte in der Bildsäule

Hoan-Kong frage einst seinen Minister, den Koang-Tschong, wofür man sich wohl in einem Staat am meisten fürchten müsse. Koang-Tschong antwortete: »Prinz, nach meiner Einsicht hat man nichts mehr zu fürchten, als was man nennet: die Ratte in der Bildsäule.«

Hoan-Kong verstand diese Vergleichung nicht; Koang-Tschong erklärte sie ihm also:

»Ihr wisset, Prinz, daß man an vielen Orten dem Geiste des Orts Bildsäulen aufzurichten pflegt; diese hölzernen Statuen sind inwendig hohl und von außen bemalet. Eine Ratte hatte sich in eine hineingearbeitet; und man wußte nicht, wie man sie verjagen sollte. Feuer dabei zu gebrauchen getraute man sich nicht, aus Furcht, daß solches das Holz der Statue angreife; die Bildsäule ins Wasser zu setzen, getraute man sich nicht, aus Furcht, man möchte die Farben an ihr auslöschen. Und so bedeckte und beschützte die Ehrerbietung, die man vor der Bildsäule hatte, die - Ratte.«

»Und wer sind diese Ratten im Staat?« fragte Hoan-Kong.

»Leute«, sprach der Minister, »die weder Verdienst noch Tugend haben und gleichwohl die Gunst des Fürsten genießen. Sie verderben alles; man siehet es und seufzet darüber; man weiß aber nicht, wie man sie angreifen, wie man ihnen beikommen soll. Sie sind die Ratten in der Bildsäule.»

Johann Gottfried Herder


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